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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen: Zur Möglichkeit der Abrechung von über den Versandhandel (DocMorris) erworbenen Arzneimitteln.

LANDESSOZIALGERICHT NIEDERSACHSEN-BREMEN

BESCHLUSS


Aktenzeichen: L 4 KR 122/02

Entscheidung vom 30. September 2002


Vorinstanz: S 11 KR 483/02 ER Sozialgericht Hannover

der Betriebskrankenkasse Continental,

- Antragstellerin und Beschwerdeführerin -,

Prozessbevollmächtigte(r): Rechtsanwälte Dr. ...,


gegen


die Bundesrepublik Deutschland,

vertreten durch den Präsidenten des Bundesversicherungsamtes,

Villemombler Straße 76, 53123 Bonn,

- Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin -,


hat der 4. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen

am 30. September 2002 in Celle durch die Richterin ... - Vorsitzende -, den Richter ... und die Richterin ... beschlossen:


Der Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 16. Juli 2002 wird aufgehoben.

Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin vom 17. Juni 2002 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 28. Mai 2002 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin hat die Kosten beider Rechtszüge zu tragen.

Der Streitwert wird auf 4.000,- EURO festgesetzt.


GRÜNDE

I.

Die Antragstellerin (Ast) ist eine bundesunmittelbare Betriebskrankenkasse (BKK) mit Sitz in Hannover. Sie wendet sich gegen einen Aufsichtsbescheid der Antragsgegnerin (Ag). Das vorliegende Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz betrifft die Anordnung der sofortigen Vollziehung dieses Bescheides. Das Hauptverfahren ist am Sozialgericht (SG) Hannover anhängig (Az.: S 11 KR 486/02).

Mit Schreiben vom 31. August 2001 wandte sich die Ag an alle bundesunmittelbaren Krankenkassen. Sie teilte mit, dass ihr ein Einzelfall einer Kostenerstattung für Medikamente bekannt geworden sei, die aus dem Internet über Versandhandel bezogen worden seien. Das gebe ihr - der Ag - Anlass, auf die Rechtslage hinzuweisen. Internet-Apotheken seien keine Leistungserbringer im Sinne des Fünftes Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V), weil sie vom Rahmenvertrag gem. § 129 SGB V nicht erfasst würden. Eine rechtmäßige Kostenerstattung von Arzneimitteln, die aus Internet-Apotheken bezogen würden, sei zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen daher nicht möglich.

In einer Presseinformation vom 13. Dezember 2001 wies die Ast auf die dramatischen Kostensteigerungen im Arzneimittelbereich hin. Dies sei der Grund für sie und neun niedersächsische Betriebskrankenkassen, die Direktabrechnungen der Apotheke 0800DocMorris N.V. mit Sitz in den Niederlanden zu akzeptieren. Nach den Aussagen der Apotheke 0800DocMorris N.V. sei der Preis für Medikamente bei ihr durchschnittlich 15 % günstiger, in Einzelfällen bis zu 60 %. Außerdem entfalle die Rezeptgebühr, da es eine Zuzahlungspflicht bei niederländischen Apotheken nicht gäbe.

Die Ag nahm diese Pressemitteilung zum Anlass, die Ast gem. § 89 Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften - (SGB IV) aufsichtsrechtlich zu beraten: In Deutschland dürften zugelassene apothekenpflichtige Arzneimittel berufs- oder gewerbsmäßig für den Endverbrauch grundsätzlich nur in Apotheken und nicht im Wege des Versandhandels in den Verkehr gebracht werden. Internet-Apotheken lieferten Arzneien aber im Wege des Versandhandels gewerbsmäßig an Endverbraucher und brächten sie damit in Verkehr. Daher liege ein Handel außerhalb der Apotheke und mithin eine Verletzung deutschen Rechts vor. Die Ast möge daher bestätigen, dass sie künftig den gegen §§ 43 Abs. 1 und 73 Abs. 1 Arzneimittelgesetz (AMG) verstoßenden Versandhandel von Medikamenten nicht mehr fördere und insbesondere keine Kosten für solche Medikamente erstatte.

Eine entsprechende Unterlassungserklärung gab die Ast nicht ab.


Daraufhin erließ die Ag gegenüber der Ast den Bescheid vom 28. Mai 2002, der folgenden Verfügungssatz hat:

„Die BKK Continental wird gemäß §§ 89 Abs. 1 S. 2, 90 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) IV verpflichtet,

l. es zu unterlassen, ihre Versicherten auf die Möglichkeit des Bezuges von apothekenpflichtigen Arzneimitteln zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung hinzuweisen, die im Wege des Versandhandels durch fernmündliche, schriftliche oder Bestellung im Internet erworben werden,

II. für ihre Versicherten für apothekenpflichtige Arzneimittel, die über einen Versandhandel erworben wurden, weder ganz noch teilweise oder im Wege der Direktabrechnung zu tragen.

III. Die sofortige Vollziehung des Bescheides wird angeordnet."


Zur Begründung führte die Ag aus: Die Versendung telefonisch, schriftlich oder über das Internet bestellter Arzneien an den Endverbraucher im Inland stelle einen Verstoß des Apothekers gegen § 43 Abs. 1 und § 73 Abs. 1 AMG dar. Das Versandhandelsverbot sei geltendes deutsches Recht. Es diene der Sicherstellung der persönlichen, qualifizierten Beratung durch den Apotheker beim Verkauf eines Arzneimittels und damit dem Verbraucherschutz. Hieran ändere der Grundsatz des freien Dienstleistungs- und Warenverkehrs im Bereich der Europäischen Gemeinschaft (EG) nichts. Die deutschen Rechtsvorschriften seien auch im europäischen Bereich zu beachten und könnten hier begrenzend wirken. Der Bezug von in Deutschland zugelassenen, apothekenpflichtigen Arzneimitteln sei auch nicht ausnahmsweise nach § 73 Abs. 2 Nr. 6a AMG zulässig. § 73 Abs. 2 Nr. 6a AMG gelte lediglich für die Einzeleinfuhr von Arzneimitteln, die zwar in anderen Staaten der EU, nicht aber in Deutschland zugelassen seien. In Deutschland nicht zugelassene Arzneimittel gehörten aber nicht zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung und seien daher nicht erstattungsfähig.

Nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) werde die sofortige Vollziehung des Bescheides angeordnet. Es bestehe ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Beendigung der rechtswidrigen Leistungspraxis der Ast. Das arzneimittelrechtliche Versandverbot des § 43 Abs. 1 AMG diene dem Schutz des Lebens und der Gesundheit der Bevölkerung. Fehlende oder unzureichende Beratung würden diesen Schutz erheblich gefährden. Das könne nicht hingenommen werden. Das rechtswidrige Verhalten der Krankenkassen könne Haftungsfragen auslösen, die nicht über lange Zeit ungeklärt bleiben könnten. Da die Versicherten möglicherweise nicht zwischen seriösen und nicht seriösen Internet-Anbietern unterscheiden könnten, komme es insoweit auf die Gesamtgefährdung an. Darüber hinaus bestehe ein öffentliches Interesse an einem fairen Wettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen. Diejenigen Krankenkassen, die das geltende Recht beachteten, hätten jedoch Wettbewerbsnachteile zu befürchten, weil die Ast den falschen Eindruck preiswerterer Leistungen für die Versicherten erwecke. Das könne Nachahmungseffekte bei noch rechtstreuen Krankenkassen hervorrufen.

Die Ast hat beim SG Hannover am 17. Juni 2002 Klage gegen den Bescheid vom 28. Mai 2002 erhoben. Sie hat beantragt, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. Mit Beschluss vom 16. Juli 2002 hat das SG den Antrag zurückgewiesen und zur Begründung insbesondere ausgeführt: Der Verpflichtungsbescheid sei bei der gebotenen summarischen Überprüfung rechtlich nicht zu beanstanden. Nach dem SGB V dürfe die Ast ihre Versicherten nicht auf die Möglichkeit des Medikamentenbezugs im Wege des Versandhandels hinweisen. Die Werbung der Ast verstoße daher gegen das SGB V und sei rechtswidrig. Daher habe die Ag hiergegen im Wege der Aufsicht vorgehen dürfen. Mit der Begrenzung der Leistungspflicht auf „apothekenpflichtige" Arzneimittel in § 31 Abs. 1 SGB V habe der Gesetzgeber eine Grundentscheidung über den Vertriebsweg getroffen. Für den Bezug von Arzneimitteln kenne das SGB V lediglich Apotheken als Leistungserbringer. Da Versandapotheken nach § 42 Abs. 1 AMG verboten seien, seien sie keine Apotheken im Sinne des SGB V. Das werde durch das Urteil des Kammergerichts Berlin vom 29. Mai 2001 (Az.: 5 U 10150/00) bestätigt. Die Ausnahmevorschrift des § 73 Abs. 2 Nr. 6a AMG sei nicht anzuwenden; sie beziehe sich nur auf das Einführen von Arzneimitteln im Reiseverkehr zum privaten Gebrauch. Im Übrigen seien ausländische Versandapotheken weder Leistungserbringer im Sinne des SGB V noch sei die Ast befugt, die Zuzahlungspflicht der Versicherten zu umgehen. Eine Kostenerstattung für Arzneimittel, die im Versandhandel erworben seien, sei somit rechtswidrig. Daher überwiege das öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung.

Gegen den ihr am 22. Juli 2002 zugestellten Beschluss hat die Ast am 24. Juli 2002 Beschwerde vor dem SG eingelegt: Weder das deutsche Sozialrecht noch das deutsche Arzneimittelrecht verbiete ihr, die Versicherten auf die Möglichkeiten des Bezuges apothekenpflichtiger Arzneimittel bei der Apotheke 0800DocMorris N.V. hinzuweisen. Arzneimittelrechtliche Legitimation sei § 73 Abs. 2 Nr. 6a AMG. Jedenfalls jedoch habe Art. 28 EG-Vertrag Vorrang vor den nationalen Versandhandels- und Verbringungsverboten der §§ 43 Abs. 1, 73 Abs. 1 AMG. Daher stehe ihr ein Recht auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage zu. Selbst aber wenn der Ausgang der Aufsichtsklage offen sei, müsse eine Interessenabwägung zu ihren Gunsten ausgehen und die aufschiebende Wirkung angeordnet werden.

Denn entgegen der Behauptung der Ag bestünde keine Gefahr für Leben und Gesundheit der Versicherten durch fehlende oder unzureichende Beratung seitens 0800DocMorris N.V. Die niederländische Apotheke 0800DocMorris N.V. wende diejenigen Sicherheitsstandards an, die deutschen Erfordernissen entsprächen. Der Hinweis der Ag, die Versicherten könnten nicht zwischen seriösen und unseriösen Internet-Anbietern unterscheiden, sei eine Behauptung und entbehre jeder Begründung. Ferner rechtfertige auch der Hinweis auf die Wettbewerbssituation zwischen gesetzlichen Krankenkassen keinen Sofortvollzug des angefochtenen Bescheides; fairer Wettbewerb sei nicht rechtswidrig. Entsprechendes gelte für den Nachahmungseffekt für andere Krankenkassen. Schließlich sei es dem Gesetzgeber unbenommen, jederzeit Regelungen für den Versand von Arzneimitteln zu treffen; dabei habe er allerdings die europarechtlichen Vorgaben zu beachten.

Ein öffentliches Interesse an einem Sofortvollzug bestehe daher nicht. Demgegenüber sei das Interesse der Ast an einer aufschiebenden Wirkung der Klage erheblich. Wenn nämlich die Versicherten die im Versandhandel erworbenen Medikamente zunächst selbst bezahlen müssten, so würden sie die Krankenkassen erst im Nachhinein für den Ersatz ihrer Aufwendungen in Anspruch nehmen. Die Folge wären zahlreiche Gerichtsverfahren mit erheblichen Prozesskosten. Damit entstünde ein nicht wieder gut zu machender Schaden für sie - die Ast - und für ihre Versicherten. Hinzu komme, dass die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) aktuell unter einem enormen Kostendruck stehe. Die Beitragssätze aller Kassenarten und insbesondere auch die der Ast seien in den letzten Monaten erheblich gestiegen. Der durchschnittliche GKV-Beitragssatz habe am 1. Januar 2001 13,54 % betragen und sei zum 1. Januar 2002 auf 14,0 % gestiegen. Ursächlich sei vor allem die deutliche Steigerung der Ausgaben für Arzneimittel. Der preisgünstige Bezug von Arzneimitteln durch 0800DocMorris N.V. trage in nicht unwesentlichem Maße zur Beitragssatzstabilität bei.

Die Antragstellerin beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 16. Juli 2002 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 28. Mai 2002 anzuordnen.


Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Ag meint, die Rechtslage sei eindeutig. Der Erlass des Verpflichtungsbescheides sei zwingend geboten gewesen. Arzneimittelsicherheit und Volksgesundheit seien hohe Rechtsgüter. Sie hätten höheres Gewicht als die Finanz- und Wettbewerbsinteressen der Ast. Entscheidend sei nicht der Versand allein durch 0800DocMorris N.V. Grundlage aller Erwägungen sei vielmehr die generelle Unsicherheit des Vertriebsweges im Versandhandel von Arzneimitteln. Das Angebotsmedium Internet biete keinerlei Sicherheit bezüglich der Herkunft, der Zusammensetzung und der Echtheit der dort bestellten Arzneimittel.


Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.


Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Prozessakten sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Ag verwiesen, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.


II.

Die Beschwerde ist frist- und formgerecht eingelegt worden und auch im Übrigen zulässig.

Die Beschwerde ist begründet.

Die von der Ag getroffene Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheides (§ 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG) ist rechtwidrig. Daher ordnet der Senat nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG die aufschiebende Wirkung der von der Ast am 17. Juni 2002 erhobenen Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Ag vom 28. Mai 2002 an.

Nach § 86a Abs. 1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen leitet sich aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz -GG- ab. Sie beruht auf der Garantie eines effizienten Rechtsschutzes und ist ein fundamentaler Grundsatz öffentlicher Prozesse. Er verhindert, dass die öffentliche Hand irreparable Maßnahmen durchführt und vollendete Tatsachen schafft, bevor die Gerichte die Rechtmäßigkeit überprüft haben (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl. 2002, § 86a Rdziff. 4 mwN). Der Grundsatz der aufschiebenden Wirkung gilt jedoch nicht ausnahmslos. Nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit kann es in Ausnahmefällen gerechtfertigt sein, den Anspruch auf aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs einstweilen zurückzustellen. Voraussetzung hierfür ist jedoch ein besonderes Interesse. Es muss über das Interesse hinausgehen, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt (vgl. hierzu Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 25. Januar 1996 - 2 BvR 2718/95 = AuAS 1996, 62-64 mwN).

In Beachtung dieser Grundsätze entfällt die aufschiebende Wirkung im sozialgerichtlichen Verfahren daher nur in Ausnahmefällen. Der Gesetzgeber hat diese Ausnahmen in § 86a Abs. 2 SGG enumerativ geregelt. Im vorliegenden Fall scheiden die Nr. 1 bis 4 des § 86a Abs. 2 SGG von vornherein aus. In Betracht kommt jedoch § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG. Danach entfällt die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage dann, wenn die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten liegt und die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, die sofortige Vollziehung mit schriftlicher Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung anordnet. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG steht grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde. Bei ihren Erwägungen muss sie in Ansehung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG eine sorgfältige und umfassende Interessenabwägung durchführen. Sie hat die Interessen der Beteiligten umfassend zu berücksichtigen und darf nicht einseitig argumentieren. Sie hat bei ihrer Abwägung zu beachten, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung eines Verwaltungsaktes ein öffentliches Interesse verlangt, das über das Interesse an der Durchsetzung des Verwaltungsaktes hinausgeht. Es muss also um mehr gehen, als um die Frage der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes. Bei allem muss die Behörde schließlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren.

§ 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG bestimmt ausdrücklich, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen ist. Die Pflicht zur schriftlichen Begründung der Anordnung des Sofortvollzuges ist Ausfluß der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG. Die Begründungspflicht gewährleistet nicht nur, dass die Behörde sich selbst kontrolliert und eine Übersicht über die Interessengegensätze gewinnt. Die Begründung schafft insbesondere auch Transparenz und Rechtsklarheit für den Betroffenen und eröffnet ihm die Möglichkeit, den Rechtsweg zu beschreiten. An die Begründungspflicht nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG sind daher hohe Anforderungen zu stellen. Die schriftliche Begründung muss nicht nur sämtliche Gesichtspunkte enthalten, die die Behörde in ihre Entscheidung einbezogen hat. Sie muss außerdem erkennen lassen, warum in diesem konkreten Einzelfall das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung das Interesse des Betroffenen überwiegt. Schließlich muss die Behörde darlegen, inwieweit die Anordnung der sofortigen Vollziehung im konkreten Fall dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit entspricht.

Diesen Grundsätzen entspricht die Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Ag nicht. Die schriftliche Begründung lässt nicht erkennen, dass die Ag eine rechtsfehlerfreie Interessenabwägung vorgenommen hat.

Der Verpflichtungsbescheid vom 28. Mai 2002 rechtfertigt die Anordnung der sofortigen Vollziehung insbesondere mit dem Schutz des Lebens und der Gesundheit der Versicherten, mit dem Verbraucherschutz, mit einer fehlenden Unterscheidungsmöglichkeit zwischen seriösen und nicht seriösen Internet-Anbietern, mit der Ermöglichung des fairen Wettbewerbs zwischen den gesetzlichen Krankenkassen und schließlich mit Wettbewerbsnachteilen für die Krankenkassen, die keinen Internet-Versandhandel zulassen.

Hinsichtlich der Interessenabwägung in Bezug auf den Schutz von Leben und Gesundheit der Versicherten lässt der Bescheid jede Äußerung dazu vermissen, dass der vorliegende Fall vor allem auch die Apotheke 0800DocMorris N.V. mit Sitz in den Niederlanden betrifft. Anlass für den Verpflichtungsbescheid vom 28. Mai 2002 war die Pressemitteilung der Ast vom 13. Dezember 2001, die gerade diese Apotheke betraf. Gleichwohl geht der Bescheid nicht auf die naheliegende Frage ein, ob auch im konkreten Fall, dh bei einem Bezug von Arzneimitteln durch 0800DocMorris N.V., tatsächlich Gesundheitsgefahren bestehen, die eine sofortige Vollziehung des Verpflichtungsbescheides auch gegenüber 0800DocMorris N.V. erforderlich machen. Die Ag hat nicht berücksichtigt, dass bereits Zehntausende deutscher Kunden Arzneimittel über die Apotheke 0800DocMorris N.V. beziehen und diese ein offensichtlich verlässliches Verfahren zur Abwicklung ihrer Lieferungen an die Besteller gefunden hat (vgl. hierzu: Richter, DA 2001 A 2624; Schäfers/Kaesbach, BKK 2001, 489 f). Das Bestellverfahren bei 0800DocMorris N.V. ist von der Ast im Einzelnen und ausführlich dargelegt worden. Angesichts dessen reicht der globale Hinweis auf den Schutz von Leben und Gesundheit der Versicherten nicht aus, um eine Anordnung der sofortigen Vollziehung zu rechtfertigen.

Entsprechendes gilt für den Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes. Die pauschale Behauptung der Ag, dass bei einem Medikamentenbezug von Apotheken im Wege des Versandhandels keine persönliche Beratung des Endabnehmers stattfinde, ersetzt keine Interessenabwägung im konkreten Fall. Denn die Ag hat weder den substantiierten Vortrag der Ast geprüft noch in anderer Weise berücksichtigt, dass die Apotheke 0800DocMorris N.V. ein organisiertes Beratungsteam unterhält und Beratungen mit Apothekern, Ärzten und weiterem Fachpersonal anbietet, wenn auch nicht „face to face", sondern im Regelfall telefonisch.

Auf das Argument, die Versicherten könnten im Internet nicht zwischen seriösen und nicht seriösen Anbietern unterscheiden, lässt sich der Sofortvollzug des Bescheides vom 28. Mai 2002 ebenso wenig stützen. Dieser Hinweis wird im Bescheid nicht näher begründet, so dass es sich dabei möglicher Weise um eine Vermutung der Ag handelt. Eine solche Vermutung rechtfertigt jedoch keine Ausnahme von der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG.

Auch der Gesichtspunkt des fairen Wettbewerbes der Krankenkassen untereinander kann die Anordnung des sofortigen Vollzuges des Bescheides vom 28. Mai 2002 nicht stützen. Ob die Abrechnung der Ast mit 0800DocMorris N.V. rechtmäßig ist, wird im Hauptverfahren zu entscheiden sein. Ist das Abrechnungsverhältnis der Ast zu 0800DocMorris N.V. rechtmäßig, kann der Ast nicht der Vorwurf eines unfairen Wettbewerbs gemacht werden. Insofern betrifft das Argument des fairen Kassenwettbewerbs kein öffentliches Interesse, das über das Interesse hinausgeht, das den Bescheid vom 28. Mai 2002 selbst rechtfertigt. Das genügt den Voraussetzungen des § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGB V jedoch nicht.

Die von der Ag angeführten Gesichtspunkte reichen für eine Anordnung der sofortigen Vollziehung somit nicht aus. Hinzu kommt, dass die Ag das überwiegende öffentliche Interesse an der Beitragssatzstabilität unberücksichtigt gelassen hat. Der Grundsatz der Beitragssatzstabilität ist ein überragendes Prinzip der GKV. Nur bei Wahrung der Beitragssatzstabilität bleibt die GKV funktionsfähig. Aus diesem Grunde sind die gesetzlichen Krankenkassen nach dem SGB V zu wirtschaftlichem Handeln verpflichtet. Sie haben dafür zu sorgen, dass die Beiträge stabil bleiben. Hierauf hat die Ast hingewiesen und ausgeführt, dass die Versorgung der Versicherten mit Arzneimitteln durch die Apotheke 0800DocMorris N.V. wesentlich günstiger ist und die Kosten senkt. Gleichwohl hat die Ag diesen Gesichtspunkt nicht erörtert. Sie hat es versäumt, den Vortrag der Ast zu würdigen. Sie hat die Interessen der Ast nicht berücksichtigt und damit auch keine Gewichtung der widerstreitenden Interessen vorgenommen. Damit hat die Ag ihre Pflicht zur sorgfältigen Interessenabwägung im Rahmen des § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGB V verletzt. Sie hat lediglich formelhaft ausgeführt, dass „ein öffentliches Interesse an der sofortigen Beendigung der rechtswidrigen Leistungspraxis besteht, das die Interessen der Kasse auch unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes überwiegt."

Dieser Mangel ist nicht nachträglich geheilt worden. Eine solche Möglichkeit besteht im Rahmen des § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG nicht, weil dies dem Schutzzweck der Vorschrift widerspricht. Insbesondere ist § 41 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - SGB X - nicht anwendbar. Denn die Vollziehungsanordnung ist kein Verwaltungsakt im Sinne des § 31 SGB X (vgl. Bayerisches LSG, Beschluss vom 14. August 2002 - Az.: L 4 B 268/02 KR ER -; Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl., § 80 Rdziff 87).

Die Vollzugsanordnung im Bescheid vom 28. Mai 2002 ist somit schon aus den vorgenannten Gründen rechtswidrig und daher aufzuheben. Ob der Verpflichtungsbescheid einer materiell-rechtlichen Prüfung Stand hält, ist vom Senat nicht zu beurteilen.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten und über die Gerichtskosten beruht auf § 197a SGG iVm § 154 Abs 1 Verwaltungsgerichtsordnung.

Der Streitwert beträgt 4.000,- EURO (§ 197a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm §§ 13 Abs. 1, 20 Abs. 3 Gerichtskostengesetz).


Dieser Beschluss ist endgültig, § 177 SGG.