Beitrag zur Entscheidung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 09.04.2009; Az.: B 3 KR 11/07 R), veröffentlicht in Patienten- und PflegeRecht 2009, S. 64 ff.
I. Einführung
Angeblich stürzen im Schnitt 50 Prozent der Bewohner eines Pflegeheimes einmal jährlich. 30 Prozent stürzen häufiger. [1] Die Folgen sind oft verheerend und von den Betroffenen gefürchtet. Zu viele erholen sich von einem Oberschenkelhalsbruch gar nicht oder nur schlecht. Diesen Umstand nahm ein dänischer Hersteller zum Anlass, sogenannte Hüftprotektoren unter dem Namen „Safehip®" zu entwickeln, die die Folgen eines Sturzes verhindern oder zumindest mildern sollen. Der Hüftprotektor besteht aus zwei anatomisch geformten Schalen, die in einer Hose so fixiert sind, dass die Schalen jeweils unterhalb des Hüftknochens liegen und den Oberschenkelknochen überdecken. Die Aufprallenergie soll so bei einem Sturz auf das umliegende Weichteilgewebe abgelenkt und damit ein Bruch des Oberschenkelknochens vermieden werden. Das Produkt erhielt eine CE-Kennzeichnung im Sinne des Medizinproduktegesetzes (MPG).
Für den Vertreib des deutschen Marktes wurde eine in Deutschland ansässige GmbH beauftragt. Die Hüftprotektoren sollten zu einem Stückpreis von ca. 80 € in den Markt gehen. Als Zielgruppe wurden Patienten mit manifester Osteoporose, bei denen ein erhöhtes Sturzrisiko besteht oder die bereits eine Oberschenkelhalsfraktur erlitten haben, anvisiert. Um die Patienten von den Kosten freizuhalten, wurde die Aufnahme der Hüftprotektoren in das Hilfsmittelverzeichnis der gesetzlichen Krankenversicherungen beantragt.
Die Frage, ob der Hüftprotektor in das Hilfemittelverzeichnis aufgenommen wird oder nicht, beschäftigte mehr als zehn Jahre die Gerichte. Nun ist klar: Eine Aufnahme wird es nicht geben. Das Bundessozialgericht hat in letzter Instanz entschieden, dass das Produkt nicht die Anforderungen zur Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis der gesetzlichen Krankenversicherungen im Sinne des § 139 SGB V erfüllt. Hilfsmittel mit ausschließlich präventivem Charakter, wie der Hüftprotektor, würden allein in den Bereich der Eigenverantwortung der Versicherten fallen. Sie könnten nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherungen abgegeben werden. Eine andere Einschätzung würde zu dem Ergebnis führen, dass auch Fahrradhelme für sturzgefährdete Kinder in das Verzeichnis aufgenommen werden müssten.
Die folgende Abhandlung beschäftigt sich mit dem grundsätzlichen Aufnahmeverfahren des § 139 SGB V sowie mit den im konkreten Verfahren ergangenen Entscheidungen des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen [2] und des Bundessozialgerichts.
II. Die Vorschrift des § 139 SGB V
Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen wird durch die Vorschrift des § 139 SGB V dazu ermächtigt, Qualitätsstandards für Hilfsmittel zu entwickeln [3] und im Hilfsmittelverzeichnis zu veröffentlichen. Von einem „Hilfsmittel“ ist in diesem Zusammenhang dann die Rede, wenn es dem Ausgleich einer körperlichen Behinderung, sowie dazu dient, den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern und auf diesem Wege die Behinderung mittelbar zu bessern oder eine Verschlimmerung zu verhüten.[4] Das Verzeichnis muss publiziert und im Bundesanzeiger bekannt gemacht werden (§ 139 Abs. 1 SGB V). Dadurch erlangt das Hilfsmittelverzeichnis den Charakter einer Rechtsgrundlage für die Verordnungsfähigkeit der enthaltenen Hilfsmittel.[5]
§ 139 Abs. 2 SGB V macht deutlich, dass die Zielsetzung einer zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung der Versicherten auch im Hinblick auf die Hilfsmittel maßgeblich ist. Die zu entwickelnden Qualitätsanforderungen können dabei nicht nur einsatz- oder indikationsbezogen sein, sondern auch festgelegt werden, um eine ausreichend lange Nutzungszeit oder in geeignete Fällen den Wiedereinsatz von Hilfsmitteln bei anderen Versicherten zu ermöglichen. Diese Konkretisierung füllt das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V näher aus.
Um in das Hilfsmittelverzeichnis aufgenommen zu werden, ist gemäß § 139 Abs. 3 Satz 1 SGB V ein Antrag des Herstellers notwendig,[6] in dem der Hersteller auf eigene Kosten die Funktionstauglichkeit, den medizinischen Nutzen und die Qualitätsanforderungen des § 139 Abs. 2 SGB V nachweisen muss.[7] Wurde der Nachweis erfolgreich erbracht und hat durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen (MdK) eine entsprechende Prüfung stattgefunden, entscheidet der Spitzenverband Bund der Krankenkassen über die Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis. Um eine Kostenübernahme der gesetzlichen Krankenversicherungen zu erreichen, ist neben der Aufnahme in das Verzeichnis auch notwendig, dass die mit dem Hilfsmittel durchzuführende Therapie durch den Gemeinsamen Bundesausschuss als vertragsärztliche Methode nach § 135 SGB V anerkannt wird.[8]
Eine Besonderheit soll für solche Hilfsmittel gelten, die bereits über eine CE-Kennzeichnung im Sinne des MPG verfügen. Die CE-Kennzeichnung soll dazu führen, dass die Anforderungen zur Aufnahme nach Maßgabe der jeweiligen Klassifikation teilweise als erfüllt angesehen werden sollen. Mit der CE¬-Kennzeichnung soll ein Hilfsmittel im Sinne der Produktsicherheit und Zwecktauglichkeit auch im krankenversicherungsrechtlichen Sinne funktionstauglich sein. Eine eigenständige Prüfung der Krankenkassen oder Gerichte soll dadurch obsolet sein.[9] Der CE-Kennzeichnung kommt insoweit eine Tatbestandswirkung zu.[10] Nur in den Fällen, in denen die CE-Kennzeichnung zusätzliche Qualitätsanforderungen für bestimmte Indikationen oder definierte Einsatzbereiche dürfen auf der Grundlage des § 139 Satz 1 SGB V weitere Prüfungen vorgenommen werden.[11]
Nach der Begründung des Fraktionsentwurf-GKV¬WSG sollen Überschneidungen mit dem MPG vermieden werden. Die Befugnis des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen ist im Falle des Vorliegens einer CE-Kennzeichnung nach § 139 S. 1, 2 SGB V ausdrücklich auf die zur Gewährleistung des Wirtschaftlichkeitsgebotes zusätzlich erforderlichen Qualitätsanforderungen beschränkt.[12] Diesen Gesichtspunkt hat das Bundessozialgericht nicht ausreichend gewürdigt.
III. Der Verfahrensgang
Den § 139 SGB V entsprechenden Antrag formulierte das in Deutschland ansässige Vertriebsunternehmen. Im September 1998 wurde er mit der Begründung abgelehnt, die Hüftprotektoren seien nicht dazu geeignet, die Stürze an sich zu verhindern. Auf Funktionsdefizite würde kein Einfluss genommen werden. Die Protektoren würden nur dazu dienen, Folgen zu mildern. Dies reiche für eine Aufnahme ins Hilfsmittelverzeichnis der gesetzlichen Krankenversicherungen jedoch nicht aus. Der gewünschte Schutz läge allein in der Eigenverantwortung des Einzelnen. Andernfalls müssten auch Fahrradhelme in das Hilfsmittelverzeichnis der gesetzlichen Krankenversicherungen aufgenommen werden. Im Übrigen könne der Schutz auch mit dem Einlegen von Schaumgummipolstern erreicht werden.
Da die Hüftprotektoren weder eine Krankenbehandlung darstellen noch den Ausgleich einer Behinderung darstellen würden, sah sich der Spitzenverband auch nicht dazu aufgefordert, zu überprüfen, ob eventuell ein therapeutischer Nutzen vorliegt.
Gegen diese Entscheidung legte die Antragstellerin zunächst erfolglos Klage ein. Das Sozialgericht Köln wies die Klage am 08.11.1999 (S 19 KR 197/98) mit der Begründung ab, es komme dem Hüftprotektor zwar durchaus eine Hilfsmittel-Eigenschaft zu. Der Indikationsbereich sei jedoch zu unscharf. Der Hüftprotektor diene weder dem Ausgleich einer möglichen Behinderung noch verhindere er den Sturz an sich. Er schütze lediglich im Falle eins Sturzes. Da ein Oberschenkelhalsbruch bei Frakturgefährdung nicht das einzige Verletzungsrisiko sei, bleibe für den betroffenen Personenkreis stets eine Unsicherheit. Die Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis komme daher nicht in Betracht.
Die Antragstellerin legte gegen diese Entscheidung Berufung ein und erweiterte ihren Vortrag. Entgegen der Ausführungen des Sozialgerichts stelle der Hüftprotektor für sturzgefährdete Versicherte ein integraler Bestandteil eines ärztlichen therapeutischen Gesamtkonzeptes dar. Die Richtlinie der "Deutschen Arbeitsgemeinschaft gegen Osteoporose" sehe unter der Überschrift "Nicht medikamentöse Therapie" den Einsatz von Hüftprotektoren ausdrücklich vor. Gegen eine Aufnahme spreche insbesondere nicht, dass ein Hüftprotektor nicht unmittelbar auf das Funktionsdefizit Einfluss nimmt. Denn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts[13] sei ausreichend, wenn ein Hilfsmittel einer weiteren Verschlimmerung einer Krankheit vorbeuge. Im Übrigen sei eine Gangunsicherheit bzw. ein sog. Sturzsyndrom als eigenständige Krankheit anerkannt. Bei diesen Krankheitsbildern sei die starke Beeinträchtigung der Lebensqualität der Betroffenen wissenschaftlich belegt. Häufig bestünde die Versorgung der Patienten lediglich in einer Fixierung zu ihrem eigenen Schutz, was durch das Tragen eines Hüftprotektors umgangen werden könne. Die Antragstellerin wies auch darauf hin, dass zivilrechtlich anerkannt sei, dass die fehlende Versorgung mit Hüftprotektoren von Bewohnern von Pflegeheimen Schadensersatzpflichten auslösen können.[14]
Spätestens mit der CE-Kennzeichnung im Sinne des MPG sei die Produktsicherheit und Zwecktauglichkeit auch im krankenversicherungsrechtlichen Sinne belegt, ohne dass dies von noch eigenständig zu prüfen wäre. Dabei sei auch zu sehen, dass Hilfsmittel im Sinne von § 3 MPG in Abgrenzung zu Arzneimitteln gerade nicht pharmakologisch, immunbiologisch oder metabolisch (§ 3 Nr. 1 MPG), sondern physikalisch wirken. Es müssten daher andere Maßstäbe angesetzt werden. Die wesentliche Bedeutung des Protektors liege darin, dass er bei hochkomplexen Krankheitsbildern (Demenz, Parkinson'sche Erkrankung, Zustand nach Schlaganfall und Vorliegen entsprechender neurologischer Defizite, Osteoporose) Anwendung finde, bei denen die Betroffenen einer stark erhöhten Sturzgefahr ausgesetzt seien und die Gefahr eines Hüftbruches bestehe.
In der Konsequenz sei zu sehen, dass der Protektor die Erhaltung und Förderung der Mobilität der Patienten unterstütze und der angstgesteuerten Passivität und dem damit einhergehenden Verlust von Koordinationsfähigkeit und Muskelschwäche vorbeuge. Damit diene der Protektor den Zielen des § 23 Abs. 1 SGB V.
Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfahlen folgte der Einschätzung der Antragstellerin und gab mit Urteil vom 31.05.2007 (Az.: L 16 (5,2) KR 70/00) der Klage statt. Die Hüftprotektoren müssten allein deshalb schon in das Hilfsmittelverzeichnis aufgenommen werden, weil sie der "Sicherung des Erfolges einer Krankenbehandlung dienten". Da sie Menschen mit einem erhöhten Sturzrisiko vor potentiellen Folgen schützen würden, seien sie auch dazu geeignet, einer drohenden Behinderung vorzubeugen. In der Konsequenz würden Patienten mit dem Wissen um ihr Sturzrisiko durch den Einsatz von Hüftprotektoren selbstbewusster und damit körperlich aktiver, mobiler und besser befähigt zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben sein.
Nebenbei erteilte das Landessozialgericht dem Spitzenverband eine Rüge. So hätte dieser im Rahmen seiner Amtsermittlung die Angaben zur Funktionstauglichkeit, zum therapeutischen Nutzen und der Qualität des Hilfsmittels überprüfen müssen. Entscheidend sei dabei der fortschreitende allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse unter Berücksichtigung des medizinischen Fortschritts und damit die Verabschiedung eines Expertenstandards. Auch die Tatsache, dass der Hüftprotektor über eine CE-Kennzeichnung im Sinne des MPG verfügt, habe der Spitzenverband nicht ausreichend gewürdigt. Nach entsprechender Prüfung hätte der Spitzenverband zu dem Ergebnis kommen müssen, dass die Hüftprotektoren als Hilfsmittel einzustufen sind, das die gesetzliche Krankenkasse bei ärztlicher Verordnung zu übernehmen und finanzieren hat. Schließlich lägen die Voraussetzungen des § 139 Abs. 2 SGB V vor. Sowohl die Funktionstauglichkeit, der therapeutische Nutzen und die Qualität des Hilfsmittels seien nachgewiesen worden.
IV. Die Entscheidung des Bundessozialgerichts
Der Spitzenverband konnte dies nicht auf sich beruhen lassen. Er legte gegen die Entscheidung des Landessozialgerichts die Revision ein. Zu groß schien die Gefahr in Zukunft vermehrt Hilfsmittel im präventivem Charakter in das Hilfsmittelverzeichnis aufnehmen zu müssen.
Die Revision war erfolgreich. Die zuständigen Richter des Bundessozialgerichts lehnten eine Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis ab (Az.: B 3 KR 11/07 R). Aufgrund der rein prophylaktischen Wirkung, sei eine Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis nicht möglich. Nach Auffassung der erkennenden Richter lindern die Hüftprotektoren "nur" die Folgen eines Sturzes. Sie würden weder der Sicherung eines Erfolges dienen, noch könnten sie einer drohenden Behinderung vorbeugen. Als reine Folgenprophylaxe kämen die Hüftprotektoren könnten nicht als Regelleistung der gesetzlichen Krankenversicherungen in Betracht. Diese fallen allein in die Eigenverantwortung des Einzelnen. Es sei jedoch möglich, dass sie im Hilfsmittelverzeichnis der Pflegeversicherung eingetragen werden könnten. Dies sei an dieser Stelle jedoch nicht zu prüfen.
Betrachtet man die vorangegangenen Entscheidung des Bundessozialgerichts verwundert dieses Ergebnis. Noch in seiner Entscheidung vom 28.09.2006[15]führte das Bundessozialgericht aus, dass sich die Anforderungen an den Nachweis der Funktionstauglichkeit, der Qualität und des therapeutischen Nutzens zur Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis an den Aufgaben und Zielen der gesetzlichen Krankenversicherungen zu orientieren haben. Sowohl die Krankenbehandlung als auch der Ausgleich einer Behinderung müssten nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse und unter Berücksichtigung des medizinischen Fortschritts (§ 2 Abs. 1 S. 3 SGB V) sichergestellt werden.[16]
§ 135 Abs. 1 SGB V[17], der die Bewertungskriterien neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden festlegt, stelle auch klar, dass neue Methoden in der vertragsärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden dürfen, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss in Richtlinien Empfehlungen über die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit - auch im Vergleich zu bereits zu Lasten der Krankenkasse erbrachten Methoden - nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung abgegeben hat. Der Nutzen sei durch qualitativ angemessene Unterlagen zu belegen.[18]
Für die Bewertung von einem Hilfsmitteln, das der Anwendung einer neuen Behandlungsmethode diene, sollte nichts anderes gelten. In diesem Fall, müsste die Anerkennung der neuen Behandlungsmethode durch den Gemeinsamen Bundesausschuss nach § 135 SGB V herbeigeführt werden, bevor eine weitere Überprüfung durch den Spitzenverband hinsichtlich der Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis stattfinde.
Dass im vorliegenden Fall konkrete Empfehlungen vorgelegen haben, neben den zahlreichen Sachverständigengutachten auch der Expertenstandard zur Sturzprophylaxe in der Pflege bereits im Jahr 2006 den Einsatz der Hüftprotektoren befürwortete und forderte, scheint jedoch für das Bundessozialgericht nicht mehr von Relevanz gewesen zu sein. Die Rechtsprechung aus dem Jahr 2006 scheint über Bord geworfen. Ebenso die Bedeutung der CE-Kennzeichnung im Sinne des MPG und deren Konsequenzen.
Die Voraussetzungen des § 139 SGB V werden ad absurdum geführt. Soweit § 139 Abs. 2 SGB V für Hilfsmittel ausdrücklich den Nachweis eines therapeutischen Nutzens verlangt, bedeutete dies nach der bisherigen Rechtsprechung nicht, dass für Hilfsmittel jeglicher Art auch die Ergebnisse klinischer Prüfungen vorgelegt werden müssen. Dies sollte vielmehr davon abhängen, welchen Zweck das Hilfsmittel verfolgt. Handelt es sich um ein Hilfsmittel, das dem Ausgleich bzw. der Vorbeugung einer Behinderung dient, geht bereits die Forderung nach dem Nachweis eines therapeutischen Nutzens, der über die Funktionstauglichkeit zum Ausgleich der Behinderung hinausgeht, über die Zielsetzung des § 139 Abs. 2 SGB V hinaus.[19] Denn § 139 Abs. 2 SGB V verlangt lediglich den Nachweis eines "therapeutischen Nutzens". Von dem Nachweis eines therapeutischen Zusatznutzens oder eines Vorteils gegenüber der bisherigen Behandlungsweise ist hingegen nicht die Rede.
Völlig unbeachtet geblieben scheint zu sein, dass im vorliegenden Fall die Funktionstauglichkeit und die Qualität der Hüftprotektoren gar nicht mehr nachgewiesen hätte werden müssen. Einer Beweisführung durch Anwendungsstudien oder Sachverständigengutachten hat es gar nicht bedurft. Schließlich handelte es sich bei dem Hüftprotektoren um ein Hilfsmittel, das zugleich ein Medizinprodukt im Sinne des MPG ist und nur in den Verkehr gebracht und in Betrieb genommen werden darf, wenn es mit einer CE-Kennzeichnung versehen ist. Im Rahmen der Erteilung der CE-Kennzeichnung müssen die Voraussetzungen des § 7 MPG erfüllt werden und ein für das jeweilige Hilfsmittel vorgeschriebenes Konformitätsbewertungsverfahren durchgeführt werden. Da die CE-Kennzeichnung vorliegt, sind die Voraussetzungen bei dem hier streitigen Hilfsmittel erfüllt. Damit ist davon auszugehen, dass das Hilfsmittel grundsätzlich geeignet ist, den medizinischen Zweck zu erfüllen, den es nach den Angaben des Herstellers besitzen soll, und dass es die erforderliche Qualität besitzt, die notwendig ist, um die Sicherheit seines Benutzers zu gewährleisten.[20]
Das Bundessozialgericht verkennt damit bei seiner Bewertung, dass mit der CE¬-Kennzeichnung ein Hilfsmittel im Sinne der Produktsicherheit und Zwecktauglichkeit auch im krankenversicherungsrechtlichen Sinne funktionstauglich ist, ohne dass dies von den Krankenkassen oder Gerichten noch eigenständig zu prüfen wäre.[21] Wie das Landessozialgericht zutreffend festgestellt hat, kommt der CE-Kennzeichnung insoweit eine Tatbestandswirkung zu.
V. Fazit
Auf den ersten Blick mag die Entscheidung des Bundessozialgerichts gegen die Aufnahme von Hüftprotektoren in das Hilfsmittelverzeichnis der gesetzlichen Krankenversicherungen keine große Rolle spielen. Die Relevanz der Entscheidung wird erst auf den zweiten Blick deutlich: Das Bundessozialgericht spricht sich zum einen generell gegen die Aufnahme solcher Hilfsmittel aus, denen nur ein präventiver Charakter zukommt Der Bereich der immer stärker propagierten Vorsorge fällt damit im Bereich der Hilfsmittel nicht in den Kostenapparat der gesetzlichen Krankenversicherungen. Dies könnte man kritisch sehen, betrachtet man die Kosten einer Vorsorgemaßnahme im Verhältnis zu den Kosten, die durch Krankheiten und Verletzungen entstehen.
Bereits Anfang 2006 erklärte Bayerns Sozialministerin Christa Stewens, dass durch den Hüftprotektor nur halb so viele Hüftfrakturen entstehen würden und führte weiter aus: "Die Folgen sind nicht nur Knochenbrüche und schmerzhafte Weichteilverletzungen, sondern auch Ängste, die zum Rückzug aus dem öffentlichen Leben und damit zur sozialen Isolation führen können. Abgesehen davon, dass den Betroffenen dadurch viel Leid erspart wird, können nach des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes die Behandlungskosten für die Folgen von Stürzen bei 500 Millionen Euro jährlich liegen. Stellt man die Kosten für Hüftprotektoren, die zwischen 23-70 Euro liegen, gegenüber, scheinen diese vertretbar. Schätzungen von Experten zufolge könnten durch den Einsatz von Hüftprotektoren jährlich 200 bis 300 Millionen Euro an Behandlungskosten eingespart werden.“ Darüber hinaus fielen hohe Folgekosten an. Basierend auf internationalen Studien erlangten rund 50 Prozent der Sturzpatienten ursprüngliche Beweglichkeit nicht mehr zurück, etwa 20 Prozent der Patienten würden ständig pflegebedürftig (Quelle: Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen (www.stmas.bayern.de)). Nach Untersuchungen des Bundesgesundheitsministeriums gibt es jährlich etwa 100.000 Oberschenkelhalsbrüche aufgrund von Stürzen. Jeder vierte Patient verstirbt innerhalb eines Jahres an den Sturzfolgen, fast jeder Dritte kommt wegen des Sturzes in eine höhere Pflegestufe.
Zum anderen geht das Bundessozialgericht über eine schlichte Tatsache hinweg: Der Hüftprotektor verfügt über eine CE-Kennzeichnung im Sinne des Medizinproduktegesetzes. Welchen Sinn hat diese, wenn dem Hersteller dadurch nicht eine gewisse Sicherheit verschafft wird?
Für das Bundessozialgericht sind diese Zahlen und Fakten nicht von Relevanz. Nach mehr als zehn Jahren haben die Betroffenen Gewissheit: Hilfsmittel mit rein präventivem Charakter müssen aus der eigenen Tasche bezahlt werden. In der Konsequenz bleibt nach einem elf Jahre andauernden Verfahren die Möglichkeit, einen weiteren Antrag zu stellen, diesmal auf Eintragung in das Hilfsmittelverzeichnis der Pflegeversicherungen. Um diese Eintragung zu erreichen, müsste nachgewiesen werden, dass die Hüftprotektoren zur Erleichterung der Pflege dienen bzw. die selbständigere Lebensführung ermöglichen. Ob dies dem Hersteller gelingen wird, ist fraglich. Sicher ist, dass die Menschen die Kosten für Hüftprotektoren in Höhe von bis zu 80 Euro allein tragen müssen. Wir sollten uns zurücklehnen und abwarten. Bis zu einer finalen Entscheidung werden wahrscheinlich wieder Jahre ins Land ziehen.
FUSSNOTEN:
[1] Abrufbar unter: www.klf-net.org/FDS/Stolpern%20und%20Stuerze.pdf.
[2] Urteil vom 31.05.2007, Az.: L 16 (5,2) KR 70/00.
[3] Butzer, in: Becker/Kingreen, 2008, § 139 SGB V Rdnr. 5.
[4] vgl. BSG 8.2.2000 USK 2000-20.
[5] so auch Hauck/Noftz/Hohnholz, SGB V § 139 Rdnr. 1.
[6] eingehend Seidel/Hartmann NZS 2006, 511, insbesondere im Hinblick auf den Konflikt zwischen Europarecht und nationalem Krankenversicherungsrecht im Hinblick auf diese Frage.
[7] hinsichtlich des Umfangs und der Anforderungen an den Nachweis des therapeutischen Nutzens nunmehr eingehend BSG SGb 2007, 490 mit Anmerkung Joussen; siehe auch Butzer, in: Becker/Kingreen, 2008, § 139 SGB V Rdnr. 13.
[8] BSG NZS 2001, 364.
[9] BSG Urteil vom 28.9.2006 NZS 2007, 495.
[10] BSGE 87, 105 = SozR 3 – 2500 § 139 Nr. 1.
[11] Offen gelassen im BSG Urteil vom 28.09.2006 NZS 2007, 495.
[12] BT-Drucks 16/3100 zu Art 1 Nr. 116 zu Abs. 2.
[13] Vgl. BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 8.
[14] Urt. des Oberlandesgerichts -OLG- Dresden, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht -FamRZ- 2005, 1174.
[15] BSG Urteil vom 28.9.2006 NZS 2007, 495.
[16] BSG SozR 3-2500 § 139 Nr. 1 m. w. N..
[17] in der ab 1. Januar 2004 gültigen Fassung durch das Gesundheitsmodernisierungsgesetz vom 14.11.2003, BGB1 I
[18] § 20 Abs. 2 S. 1 der Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 20.09.2005 -VerfO-, BAnz Nr.244 vom 24.12.2005, S. 16998.
[19] BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 8.
[20] BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 8.
[21] vgl. auch Seidel/Hartmann, Neue Zeitschrift für Sozialrecht -NZS- 2006, 511.
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Keine präventiven Hilfsmittel im Hilfsmittelverzeichnis der gesetzlichen Krankenversicherungen
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