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Mutiert das Gesundheitssystem zum Krankheitssystem

Beitrag zur Einführung des Gesundheitsfonds und des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleiches, veröffentlicht in Patienten Rechte Nr. 4/2008, S. 74 ff.

I. Einführung

Die Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) verfolgt ihr Lieblingsziel und lässt es aller Kritiken zum Trotz nicht aus den Augen: Der einheitliche Beitragssatz der gesetzlich Versicherten soll unter der 16 Prozentmarke bleiben – zumindest bis nach der nächsten Bundestagswahl.

Es wird immer deutlicher, dass der Gesundheitsfonds, der trotz aller Versuche der Opposition zum 1. Januar 2009 eingeführt werden wird, nicht nur das größte sozialpolitische Abenteuer der letzten Jahrzehnte darstellt, sondern auch einen immensen Kostenberg produzieren wird – nicht nur für die Versicherten, auch für die Krankenkassen. Die durch den Einheitsbeitrag erlangten Beiträge werden von den gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) in den Gesundheitsfonds weitergeleitet, aus dem die GKV in der Folge Pauschalen für jeden einzelnen Versicherten zugewiesen bekommen, mit denen sie die Gesundheitsversorgung ihrer Versicherten sicherstellen müssen. Bislang kann noch nicht abgesehen werden, welcher Verwaltungsapparat für diese Abwicklungen allein notwendig werden wird. Auch die GKV tappen in dieser Hinsicht im Dunkeln.

Besonders eklatant ist ferner, dass der Gesundheitsfonds bereits vor seiner Einführung in einer Finanzkrise steckt. So kommen allein durch die erwarteten Mehrausgaben für Ärzte, Krankenhäuser und Arzneimittel nach Expertenschätzungen 15 Milliarden Euro zusammen. Dies hatte die Bunderegierung zum Anlass genommen, bereits jetzt eine Unterstützung in Höhe von 4 Milliarden zuzusichern. 11 Milliarden bleiben offen. Auch die Bundesgesundheitsministerin muss wissen, dass der Einheitsbetrag die Kosten nicht decken wird, die bereits jetzt für das Jahr 2009 von den Experten prognostiziert werden. Berücksichtigt man die sich immer weiter drehende Ausgabenspirale der gesetzlichen Krankenkassen wirkt das Versprechen der Bundesgesundheitsministerin gegenüber der „Bild“-Zeitung [1], dass der Beitragssatz bis zum Jahr 2011 stabil bleiben wird, daher als schlechter Witz. Es bleibt das Urteil des Sachverständigenrats aus dem Jahr 2006 hochaktuell: „Der Gesundheitsfonds ist eine Missgeburt.“ [2] Dies trifft zu, gerade wenn man die strukturelle Veränderung der Wirtschaftlichkeitsprüfungen bei den gesetzlichen Krankenkassen betrachtet.

Zeitgleich mit dem Gesundheitsfonds wird der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) eingeführt, der zum Wesenskern des Gesundheitsfonds mutiert, gleichwohl seine Wurzeln viel tiefer sitzen. Im Rahmen der Ausschüttung durch den Gesundheitsfonds wird neben der Grundpauschale für jeden Versicherten für insgesamt 80 ausgewählte Krankheiten ein so genannter Morbi-RSA durchgeführt. In dessen Rahmen obliegt es den Krankenkassen, Versicherte mit einer der ausgewählten Krankheiten nachzuweisen. Dies stößt von zwei Seiten auf Kritik. Zum einen wird beklagt, dass in dem Zuschusskatalog zu wenig Krankheiten aufgenommen worden sind. Zum anderen wird kritisiert, dass eine falsche Auswahl getroffen wurde und zu viele Volkskrankheiten ihren Niederschlag darin gefunden haben. So zählen auch Bluthochdruck und leichte Diabetes zu den ausgewählten Krankheiten. Nach Auffassung von Dr. Volker Möws, Leiter der TK-Landesvertretung Mecklenburg-Vorpommern ist dies unverständlich: „Hier sollten die Betroffenen eher motiviert werden, durch mehr Bewegung und Ernährungsumstellung selbst aktiv zu werden.“ [3]

In der Konsequenz wird dem Gesundheitsfonds in Verbindung mit dem Morbi-RSA unterstellt, dass die GKV in Zukunft nur dann wirtschaftlich arbeiten können, wenn sie ihre Versicherten so lange wie möglich so krank wie möglich halten. Mutiert unser Gesundheitssystem zum „Krankheitssystem“? Was steckt hinter dem Morbi-RSA und welche Konsequenzen hat seine Einführung in Verbindung mit der Einführung des Gesundheitsfonds?


II. Der „normale“ Risikostrukturausgleich

1. Europäischer Hintergrund

In Deutschland, Niederlande, Belgien, Schweiz, Israel, Tschechien und der Slowakei haben die Versicherten seit Beginn der 90Jahre Wahlfreiheit zwischen den GKV. [4] In der Konsequenz besteht in diesen Ländern ein Wettbewerb zwischen den einzelnen GKV hinsichtlich der Werbung um die Versicherten. Im gleichen Atemzug wurde in diesen Ländern die Beitragsgestaltung der GKV stark reguliert: Entweder erfolgt die Beitragserhebung einkommensabhängig, wie beispielsweise in Deutschland, es werden „Gesundheitsprämien“ wie beispielswiese in der Schweiz gezahlt oder der Beitrag wird durch ein Mischsystem der beiden genannten Systeme erhoben. Letzteres hat in den Niederlanden und Belgien Praxis gefunden. Um die GKV nicht dazu zu nötigen, eine Art „Risikoselektion“ zu betreiben bzw. bestimmte Versichertengruppen gar nicht erst anzusprechen [5] wurden in den Ländern Risikostrukturausgleiche eingeführt und folgten damit der Empfehlung der internationalen gesundheitsökonomischen und versicherungstheoretischen Literatur [6].

Jeweils abhängig von dem System der Beitragserhebung ist der Ablauf des Risikostrukturausgleiches in den einzelnen Ländern ausgestaltet. So wird im internationalen Vergleich zwischen „internen“ und „externen“ Ausgleichssystemen differenziert. In Deutschland zahlen die Versicherten bislang ihre Beiträge an die GKV. Es findet dann ein „interner“ Risikostrukturausgleich zwischen den GKV statt. Die GKV mit vielen gesunden und jungen Versicherten gleichen die „Verluste“ der GKV mit vielen kranken und alten Versicherten aus. Werden die Beiträge hingegen wie in Deutschland ab dem 1. Januar 2009 in einem Gesundheitsfonds gesammelt, findet der Risikostrukturausgleich „extern“ statt: Der Gesundheitsfonds schüttet dann risikoadjustierte bzw. Kopf-Pauschalen an die GKV aus.

2. Deutscher Hintergrund

In Deutschland wurde der Risikostrukturausgleich zwischen den GKV mit Ausnahme der landwirtschaftlichen Krankenkassen im Jahr 1994 eingeführt. Hinzu kamen im Jahr 2002 der so genannte Risikopool und im Jahr 2003 die Disease-Management-Programme.

Basierend auf den Versichertendaten wurde im Rahmen einer Mischung aus Datenvollerhebung und Stichprobenerhebung durch das Bundesversicherungsamt der Ausgleichsbedarf bzw. die Ausgleichspflicht der jeweiligen GKV bestimmt. In den Risikostrukturausgleich flossen auch die seitens der Arbeitgeber aufzubringenden Beiträge aus Mini-Jobs ein. So erhält jede GKV für jeden ihrer Versicherten einen Beitragsbedarf basierend auf Alter und Geschlecht, Erwerbsminderungsrentner und Nicht-Rentner sowie nach dem Einschreibestatus in ein Disease Management-Programm sowie den Bedarf aus dem Risikopool [7]. Anhand dieser Maßstäbe wurden allein im Jahr 2004 im Rahmen des Risikostrukturausgleiches 16,1 Mrd. € zwischen den Krankenkassen umverteilt. Die Unterschiede in der Versichertenstruktur sind in den einzelnen GKV teilweise gravierend. So existieren GKV die hinsichtlich ihrer Versicherten so „gut“ – einkommensstark und gesund - aufgestellt sind, dass diese mit einem Beitragssatz von 5% wirtschaften könnten. Im Gegensatz dazu gibt es GKV, die ohne Risikostrukturausgleich aufgrund der Versichertenstruktur einen Beitrag von 20% erheben müssten. [8]

Ein Beispiel dafür sind die Allgemeinen Ortskrankenkassen, die den bisher größten Empfänger des Risikostrukturausgleiches darstellen. Allein im Jahr 2005 erhielten diese ca. 12,7 Mrd. €. Auf der anderen Seite gibt es die GKV mit den höchsten Einzahlungen in den Risikostrukturausgleich. So zahlten die Betriebskassen ca. 8,9 Mrd. € und die Angestellten- und Arbeiterersatzkassen ca. 4,1 Mrd. € verbunden mit der Beschwerde des Überausgleiches – nicht völlig zu Unrecht: einzelne „empfangende“ Allgemeine Ortskrankenkassen haben einen niedrigeren Beitragssatz als die zahlenden Krankenkassen.

3. Der Risikopool

Zum 1. Januar 2002 wurde der Risikopool eingeführt. Dieser versteht sich als eine Art Fonds, über den die Betreuung kostenintensiver Patienten finanziell ausgeglichen werden soll [9]. Bezahlt werden über den Risikopool 60 % der durch stationäre Versorgung, Arzneimittelversorgung, ambulante Dialyse, Krankengeld und Sterbegeld entstehenden Kosten, die über dem Schwellenwert liegen. Dieser Schwellenwert unterliegt einer jährlichen Dynamik. Im Jahr 2007 lag der Schwellenwert bei 21.051 Euro/Jahr. Finanziert werden über den diesen „Fonds“ rund 4% der Gesamtausgaben und damit Kosten für rund 1% der Versicherten der GKV.

4. Disease-Management-Programme

Im Zuge der Reform des Risikostrukturausgleiches vom 10. Dezember 2001[10] wurden im Jahr 2003 die Disease-Management-Programme eingeführt. Anhand der Teilnehmer dieser Programme werden gesondert die alterspezifischen Leistungsausgaben ermittelt und so an die GKV die entsprechend höheren standardisierten Leistungsausgaben über den Risikostrukturausgleich angerechnet und ausgeschüttet. Im Jahr 2005 zählten zu diesen Disease-Management-Programme folgende "strukturierte Behandlungsprogramme": Diabetes mellitus Typ 1 und 2, Brustkrebs, Koronare Herzerkrankung, Asthma und chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD). Im Jahr 2005 litten 1,7 Millionen der Versicherten an diesen Krankheiten bzw. „nahmen an diesen Programmen teil“. Auf diese entfielen - aufgrund der Tatsache, dass Chroniker deutlich höhere Ausgaben haben – ca. 6,1 % der im Risikostrukturausgleich berücksichtigten Ausgaben der GKV. [11]


III. Der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich

Mit dem Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleiches aus dem Jahr 2001 [12] wurde auch beschlossen, dass beginnend mit dem Jahr 2007 im Rahmen der Messung der Risikostrukturen der Versicherten ein morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) durchzuführen sein soll. „Morbiditätsorientiert“ deswegen, weil die Krankheitsanfälligkeit einzelner Versichertengruppen das maßgebliche Kriterium für die Ermittlung des Beitragsbedarfs einer GKV im Rahmen des Risikostrukturausgleiches sein soll. Das Gutachten zu Modellen und Empfehlungen hinsichtlich der „Klassifikationsmodelle für Versicherte im Risikostrukturausgleich“ wurde im Sommer 2004 vorgelegt [13]. Begründet wurde die Morbiditätsorientierung damit, dass der finanzielle Ausgleich zwischen den GKV genauer und gezielter stattfinden müsse, ohne die wirtschaftliche Herangehensweise der GKV zu manipulieren. Genauer gesagt sollte die Morbiditätsorientierung gerade darauf hinwirken, eine Risikoselektion gänzlich auszuschließen. Kranke Versicherte sollen nicht weniger attraktiv sein. Dass die Attraktivität der kranken Versicherten verbessert werden wird, steht außer Frage. Jedoch geht mit der gesteigerten Attraktivität des einen auch zwangsläufig die Unattraktivität des anderen einher.

Der Zeitplan konnte nicht eingehalten werden. Im Zuge des Kompromiss der Großen Koalition zur Gesundheitsreform 2006 haben sich Parteien geeinigt, den Morbi-RSA zusammen mit dem Gesundheitsfonds beginnend mit dem 1. Januar 2009 einzuführen. [14] Um eine Übersicht der zu berücksichtigenden Erkrankungen zu schaffen, wurde beim Bundesversicherungsamt ein Wissenschaftlicher Beirat eingerichtet. Ob der Morbi-RSA funktionieren wird, ist unter den einschlägigen Gesundheitsökonomen umstritten. Jedenfalls wurden bereits mit der 14. Risikostrukturausgleichs-Verordnung vom 18. Dezember 2006 die datenrechtlichen Voraussetzungen für die Umsetzung des Morbi-RSA geschaffen. Die GKV sind seither verpflichtet, die verordneten Arzneimittel und die Diagnosen versichertenbezogen zu erfassen, zu pseudonymisieren und jeweils bis zum 15. August des Folgejahres an das Bundesversicherungsamt zu liefern [15]. Das seitens des Wissenschaftlichen Beirates zur Umsetzung des Morbi-RSA im Dezember 2007 veröffentlichte Gutachten wurde kontrovers diskutiert. Es hatte sich im Rahmen der Auswahl der Krankheiten dafür ausgesprochen, den Schwerpunkt auf sehr teure und teilweise auch sehr seltene Krankheiten zu setzen. Im Gegensatz dazu kam ein Gutachten des Instituts für Medizinmanagement der Universität Duisburg-Essen [16] (sog. "Essener Liste") zu dem Ergebnis, dass der Fokus auf die häufigen, im Einzelfall weniger teuren Erkrankungen gelegt werden müsse.

In der Konsequenz ging der letztendlichen Veröffentlichung ein harscher Streit zwischen dem wissenschaftlichen Beirat, dem Bundesversicherungsamt und einigen Krankenkassen voraus. Die Krankenkassen haben die seitens des Beirats vorgelegte Liste nicht akzeptieren wollen, da sie nach ihrer Auffassung nicht genügend Krankheiten berücksichtigte. Das Bundesversicherungsamt sah sich daher gezwungen, die Liste zu erweitern. Der wissenschaftliche Beirat ist daraufhin am 26. März 2008 geschlossen zurückgetreten.

Nunmehr umfasst die Liste auch Volkskrankheiten, so dass der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich nicht wie geplant 23% der 72 Millionen gesetzlich Versicherten berücksichtigt, sondern 40%.


IV. Hält der Gesundheitsfonds seine Stabilität?

Der Beitragssatz in Höhe von 15,5 % wurde von dem sogenannten Schätzerkreis bestehend aus Fachleuten des Bundesversicherungsamtes, der GKV und des Bundesgesundheitsministeriums vereinbart. Die GKV selber halten einen Beitragssatz für 15,8 % für erforderlich. Klar ist, dass es selbst mit dem Beitragssatz in Höhe von 15,5 % für 92,1 % der Mitglieder der GKV und damit für 46 Millionen Menschen im kommenden Jahr teurer werden wird. Nicht vergessen werden darf, dass die Versicherten der GKV bereits heute 9 Milliarden Euro für Zahnersatz und Krankengeld tragen müssen. Hinzukommen 10 Milliarden für die Praxisgebühr und für Kosten für Arzneimittel, die die GKV nicht mehr übernehmen. Gleichzeitig dürfen die Versicherten ab 2009 noch mit weiteren „Zusatzbeiträgen“ rechnen, wenn die GKV in finanzielle Schieflage geraten.

Dass der Beitragssatz – wie von der Bundesgesundheitsministerin gegenüber der „Bild“-Zeitung angekündigt [17] – bis zum Jahr 2011 stabil bleiben wird, ist angesichts der stets steigenden Arzneimittelausgaben eher unwahrscheinlich. Die Ausgabenspirale der GKV dreht sich immer weiter konsequent nach oben – auch ohne Berücksichtigung des durch den Gesundheitsfonds notwendig werdenden „neuen“ Verwaltungsapparates.

Mit den Gesamtausgaben steigen auch die Ausgaben für Arzneimittel. Diese verzeichnen sogar laut Arzneiverordnungsreport des Prof. Dr. Ulrich Schwabe und Dr. Dietrich Paffrath einen doppel so starken Anstieg im Vergleich zu den Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenkassen. Die Position, die in Deutschland in der internationalen Gesamtschau für den Arzneimittelmarkt einnimmt, verfestigt sich damit weiterhin. Schon seit jeher sind die Arzneimittelausgaben in Deutschland deutlich höher als im EU-Ausland oder gar in den USA.

Für den Gesamtausstieg sind jedoch auch weitere Komponenten ursächlich. So mussten nach Angaben des Reports im Jahr 2007 durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer Mehrkosten in Höhe von 763 Millionen Euro finanziert werden. Durch die umfassendere Übernahme von Impfungen durch die GKV entstehen seit April 2007 weitere Kosten in Höhe von 660 Millionen Euro. Prävention ist teuer. Die Bevölkerung wird dank der ausgezeichneten Arzneimittelversorgung immer älter. Dass dies alles Kostenpunkte sind, die bereits jetzt ein tiefes Loch reißen, ist unumstritten. Jedoch handelt es sich um notwendige und unumgängliche Kosten, möchte man den Standard halten. Dass nicht auf der einen Seite beklagt werden kann, dass zu wenige Eltern für einen ausreichenden Masern-Impfschutz sorgen und auf der anderen Seite gejammert werden kann, dass die Arzneimittelausgaben stetig steigen, scheint der Bundesgesundheitsministerin klar zu sein. Sie fordert daher auf, Kosten einzusparen und dabei nicht die Qualität der Versorgung der Versicherten zu schmälern. In diesem Zuge soll beispielsweise das Instrument der Rabattverträge stärker genutzt werden. Konsequente Zweitmeinungsverfahren sowie bessere und schnellere Kosten-Nutzen-Analyse sollen bei neuen Arzneimitteln zur Kostensenkung eingesetzt werden. Letztere könnten nach Auffassung der Bundesgesundheitsministerin langfristig als vierte Zulassungshürde eingerichtet werden. Die Wirtschaftlichkeitsprüfung würde damit zur Zulassungsvoraussetzung werden. Ein ähnliches System wird bereits in der Schweiz propagiert, wo ein Hersteller Rückerstattungen leisten muss, wenn sich ein Arzneimittel im Nachhinein als zu teuer herausstellt. Kritisiert wird die vierte Hürde durch die Pharmazeutische Industrie gerade in Bereichen, in denen wenige Patienten auf innovative Therapien angewiesen seien. In dieses Gefüge eine Wirtschaftlichkeitsanalyse zu platzieren könnte zu Lasten der Versicherten gehen.

Die Prognose des Reports für das Jahr 2009 sieht wie zu erwarten eine weitere Erhöhung der Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen von 6,6 % vor. Dafür spricht auch die Vereinbarung der gesetzlichen Krankenkassen mit den Ärzten über eine Erhöhung von weiteren zwei Milliarden Euro. Es ist zu erwarten, dass der Gesundheitsfonds, über den die Beiträge für das Jahr 2009 aus den derzeitigen Prognosen für das Jahr 2009 berechnet werden, einen höheren Beitrag als den derzeitigen Durchschnitt von 14,9 % des Bruttolohns vorsehen wird. Geht man von diesen Punkten aus, ist allein für das Jahr 2009 ein Einheitssatz von 15,8 % realistisch. Allein wenn man die erwarteten Ausgabenerhöhungen im Bereich der Arzneimittelkosten, der Zuschüsse für Krankenhäuser und der Ärztehonorare betrachtet, ergeben sich bereits daraus Mehrausgaben von 0,8 Prozentpunkten. Und die Kosten werden weiter steigen.

Vielleicht hat man deshalb – in Anbetracht der bereits entstandenen Widrigkeiten und der noch kommenden – angekündigt, Krankenkassenbeiträge stärker steuerlich absetzen zu können. Aus einem Schreiben des Bundesfinanzministeriums an den Haushaltsausschuss ergibt sich, dass ab 2010 alle gesetzlich und privat Versicherten ihre Krankenkassen- und Pflegeversicherungsbeiträge größtenteils steuerlich absetzen können. Damit würden die bisherigen Grenzen von 1.500 € bzw. 2.400 € (Arbeitnehmer bzw. nicht Arbeitnehmer) aufgeweicht werden. Für den Staat geht damit eine Haushaltslücke von mehreren Milliarden einher.

Die Regierung muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie den Einheitsbeitrag für die GKV aus rein politischen Motiven zu niedrig ansetzt. Der Deutsche Gewerkschaftsbund warnte bereits vor einer „politisch motivierten Unterfinanzierung des Gesundheitswesens“ [18]. „Der Beitragssatz darf nicht politisch festgelegt werden, sondern muss die gesamten Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung abdecken“, klagt auch der Präsident des Sozialverbandes Deutschland, Adolf Bauer [19]. Ein zu niedriger Beitragssatz zwinge die Krankenkassen zu Einsparungen bei der medizinischen Versorgung und gehe damit zu Lasten der Patienten und Versicherten. „Jetzt ist die Bundesregierung am Zug“, sagt Doris Pfeiffer, die Chefin des Spitzenverbandes der Krankenkassen [20]. Sie müsse den Beitrag auf 15,8 % festsetzen, um alle Ausgaben finanzieren zu können.


V. „Nur ein kranker Versicherter ist ein guter Versicherter“

Ungeachtet der direkten monatlichen finanziellen Belastung der Versicherten, liegt das größte Problem in den Gefahren, die der Morbi-RSA hinsichtlich der neuen strukturellen Herangehensweise mit sich bringt. Die GKV erlangen eine höhere Versichertenpauschale aus dem Gesundheitsfonds, indem sie eine der Krankheiten im Sinne der Zuschlagsliste nachweisen. Das Problem: Kassen bekommen auf diese Weise Zuschüsse zu Behandlungskosten, die durch entsprechende Vorsorgemaßnahmen hätten verhindert oder gemildert werden können. Aus Patientensicht stellt sich die Frage, ob Kassen, die für Krankheiten Geldprämien bekommen, überhaupt noch ein Interesse daran haben, dass diese Patienten schnell gesund werden. Rein wirtschaftlich gesehen betrachtet: Nein. Denn die GKV wie auch die behandelnden Ärzte und Krankenhäuser sind wirtschaftlich besser gestellt, wenn sie möglichst viele Krankheiten dokumentieren. Viele Krankheiten der Zuschlagsliste bedeuten mehr finanzielle Mittel. Hinzu kommt, dass GKV, die nicht mit den ihnen zugewiesenen Kopfpauschalen auskommen, Zusatzbeiträge von ihren Mitgliedern erheben können.

In der Konsequenz gab Christoph Straub von der Techniker Krankenkasse (TKK) gegenüber dem ARD-Magazin „Panorama“ [21] mit dem Satz „Nur ein kranker Versicherter ist ein guter Versicherter“ eine zutreffende Prognose für die Konsequenzen des kommenden Gesundheitsfonds ab. Die größte Gefahr besteht in der Beeinflussung der Ziele einer Krankenkasse. Bislang hatte eine GKV einen besseren finanziellen Spielraum bei möglichst vielen gesunden Versicherten. Mit dem Gesundheitsfonds steht den GKV nun ein größerer finanzieller Spielraum zu, bei möglichst vielen kranken Versicherten. Es bleibt die Hoffnung, dass die GKV in der Zukunft dabei nicht die zentrale Aufgabe aus den Augen verlieren, die Gesundheit der Versicherten bzw. alles zu tun, damit sie wieder gesund werden. Diese wird derzeit dadurch getrübt, dass bekannt worden ist, dass diverse GKV schon damit begonnen haben, Datensammlungen mit dem Ziel anzulegen, möglichst viele Anzeichen einer Krankheit bei den Versicherten zu entdecken, um diese dann gegenüber dem Gesundheitsfonds als Morbi-RSA-fähige Krankheit nachzuweisen. „So werden Millionen von Versichertendaten – auch von uns, das gebe ich ehrlich zu – durchanalysiert“, sagte Jörg Saatkamp, Vorsitzender des Bayrischen Landesverbandes der Betriebskrankenkassen [22]. Er räumte ein, es werde durchaus geprüft, ob der Patient nicht einen Zuschlag bekommen könnte, „wenn man an kleinen Schrauben dreht“. [23] Sein Kollege von der Audi-Betriebskrankenkasse, Uwe Seybold, sagte: „Als Mensch finde ich das System pervers. Die Anreize sind völlig falsch. Wirtschaftliches Ziel ist es, den Kunden krank zu behalten.“ [24] Dies könnte nach den Worten von Hans Unterhuber von der Siemens-Betriebskrankenkasse Auswirkungen nicht nur auf die Behandlung von Krankheiten, sondern auch auf Vorsorge- und Gesundheitsförderprogramme haben. Es sei fraglich, ob diese in Zukunft betriebswirtschaftlich noch zu verantworten seien. [25]

Mit dem Gesundheitsfonds und dem Morbi-RSA werden durch den Gesetzgeber Anreize, die das Gesundheitssystem in die falsche Richtung führen (könnten). Anstatt mehr Wettbewerb zu schaffen, wird eine stärkere Bürokratisierung die zwangsläufige Folge sein. Die staatlichen Eingriffe werden größer, die Gesundheitsvorsorge wird reduziert. GKV, die neue Versorgungswege beschreiten wollen, um ihre Versicherten auf dem Weg zu einer schnelleren Genesung zu unterstützen, werden durch das neue System bestraft. Besonders kritisch wird dabei gesehen, dass auch Wohlstandskrankheiten wie Bluthochdruck und Diabetes Morbi-RSA-fähige Krankheiten darstellen. „Die Ärzte werden in Zukunft Checklisten haben an Diagnosen, die man leicht bei vielen finden kann, die aus dem Morbi-RSA Geld generieren", sagte BKK-Landeschef Saatkamp. [26] „Da wird in jeder Praxis gescannt werden. Das ist aus meiner Sicht pervers.“ Der RSA-Experte, Prof. Dr. Gerd Glaeske, befürchtet nun, dass der Morbis-RSA in seiner jetzigen Ausgestaltung Präventionsprogramme verhindern könnte: „Der Anreiz für eine Kasse, mehr Patienten zu produzieren, als sie eigentlich hat, ist vorhanden.“ [27] Seiner Ansicht nach dürfen die Kassen nach der Neuregelung aus rein betriebswirtschaftlichen Überlegungen heraus wenig Interesse daran haben, ihre Versicherten durch teure Präventionsprogramme gesund zu erhalten.

Das für den Morbi-RSA zuständige Bundesversicherungsamt hält die Befürchtungen für übertrieben. Behördenchef Hecken sagte, er gehe nicht davon aus, „dass das, was theoretisch an der einen oder anderen Stelle für den einen oder anderen im Einzelfall reizvoll erscheinen würde, zu einem Massenphänomen wird“ [28]. Die Kassen würden das finanzielle Risiko der Umsteuerung wahrscheinlich nicht eingehen, weil sie bei den Zahlungen in Vorleistung gehen müssen.


VI. Konsequenzen für den Wettbewerb

Bislang konkurrieren die Kassen vor allem über den Beitragssatz. Kleine Betriebskrankenkassen (BKK) in Unternehmen mit gut verdienenden jungen gesunden Arbeitnehmern konnten mit niedrigen Beitragssätzen punkten. Diese zählen jetzt zu den Verlierern: Der BKK-Bundesverband geht davon aus, dass die Mitglieder der 170 Betriebskrankenkassen sowie deren Arbeitgeber bei dem angekündigten Beitragssatz in Höhe von 15,5 % Mehrkosten in Höhe von 700 Millionen Euro tragen werden müssen. Weitere Leidtragenden werden die Internetkassen sein, die wie der Chef der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) Herert Rebscher feststellte, „die preissensible Kundschaft am PC abgreift“ [29]. Marktführer war hier die Online-Krankenkasse IKK-Direkt mit einem Beitragssatz von 13,8%.

Festzuhalten bleibt: die Gesunden waren bislang sehr preissensibel. Mit dem Gesundheitsfonds gibt es schlimmeres. Der Einheitssatz wird dem bisherigen Wettbewerbsgefüge die Grundlage entziehen. Dass die GKV nicht mehr mit niedrigen Sätzen punkten können, wissen die GKV und reagieren bereits darauf: Die IKK direkt kündigte ihre Fusion mit der Techniker Krankenkasse zur größten Kasse bundesweit an. Die KKH fusioniert mit der Betriebskrankenkasse der Allianz.

Der Gesundheitsfonds wird den Preiswettbewerb nur kurzfristig ausschließen. Die zu erwartenden Zusatzbeiträge werden die neue Rahmenbedingungen für einen neuen Preiswettbewerb schaffen. GKV, die mit dem ihnen durch den Gesundheitsfonds zur Verfügung gestellten Geld nicht auskommen, werden direkt bei ihren Versicherten Zusatzbeiträge erheben. GKV, die gut mit dem an sie ausgeschütteten Geld auskommen, können um neue Versicherte mit Prämien werben. Dass es noch im Jahr 2009 zu Zusatzbeiträgen bzw. Prämien kommen wird, ist eher unwahrscheinlich. „Keiner will der Erste sein“, sagt der Gesundheitsökonom Prof. Dr. Wasem [30]. Die erste GKV, die eine Prämie auslobt, wird sich vor Zulauf kaum retten können. Umgekehrt wird es denen gehen, die Zusatzbeiträge erheben werden müssen. Um diese zu vermeiden, bleibt den GKV nur ein Mittel: Sie werden an allem sparen, was nicht gesetzlich vorgeschrieben ist. Rebscher: „Das geht auf die Knochen der Patienten“. „Der Qualitätswettbewerb,“ so Gesundheitsökonom Wasem, „hat erst dann wieder eine Chance, wenn alle Kassen Zusatzprämien erheben. Das ist eine Durststrecke, die mehrere Jahre dauern könnte.“ [31]


VII. Fazit

Es ist die vollständige Perversion des bisherigen Systems. Die Zeiten, in denen die Kassen alles daran setzten, möglichst viele junge, gesunde Gutverdiener unter ihren Mitgliedern zu haben, gehen zu Ende. Krankenkassen akquirieren seit Neuestem lieber solche Kunden, die bereits mit diversen Krankheiten zu kämpfen haben und dies noch lange tun werden.


FUSSNOTEN:

[1] in der Ausgabe vom 07.10.2008
[2] Abrufbar unter: www.wiwo.de/politik/warum-haben-die-steigenden-kassenbeitraege-nur-wenig-mit-dem-gesundheitsfonds-zu-tun-307419/.
[3] Abrufbar unter: www.mvregio.de/mvr/nachrichten_mv/150139.html.
[4] van de Ven WPMM et al: Risk Adjustment and Risk Selection on the Sickness Fund Insurance Market in Five European Countries. In: Health Policy 65, 2003, 75-98
[5] van de Ven WPMM, Ellis R. Risk Adjustment in competitive health plan markets. In: Culyer AJ, Newhouse JP, eds. Handbook of Health Economics. Amsterdam: Elsevier North Holland; 2000:755-845
[6] van de Ven u. Ellis, a.a.O.
[7] Zum Verfahren im Einzelnen siehe www.bundesversicherungsamt.de/Fachinformationen/Risikostrukturausgleich/Informationen/RSA-Leitfaden_JA_2006.pdf.
[8] Jacobs et al. ,a.a.O.
[9] Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleichs vom 10.12.2001; Bundesgesetzblatt I S. 3465.
[10] Bundesgesetzblatt I S. 3465.
[11] Daten beim Bundesversicherungsamt unter www.bundesversicherungsamt.de herunterladbar, dort: Fachinformationen, Risikostrukturausgleich, Jahresausgleiche.
[12] Bundesgesetzblatt I S. 3465.
[13] BMG Startseite
[14] Die Verschiebung wurde rechtstechnisch durch das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz vom 22.12.2006 (BGBl. I S. 3439) vorgenommen.
[15] Bundesgesetzblatt I S. 3224.
[16] www.uni-due.de/medizinmanagement/Lehrstuhl/Aktuelles/080122_Langfassung_Final.pdf.
[17] in der Ausgabe vom 07.10.2008.
[18] www71.sevenval-fit.com /welt/deeplink/welt/wirtschaft/article2529080/Die-46-Millionen-Verlierer-des-Gesundheitsfonds.xmli.
[19] www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,582066,00.html.
[20] www.n24.de/news/newsitem_3927652.html.
[21] Abrufbar unter: www.mdr.de/nachrichten/5680257.html.
[22] www.focus.de/finanzen/versicherungen/krankenversicherung/gesundheitsfonds-nur-ein-kranker-kunde-ist-ein-guter-kunde_aid_323034.html.
[23] www.focus.de/finanzen/versicherungen/krankenversicherung/gesundheitsfonds-nur-ein-kranker-kunde-ist-ein-guter-kunde_aid_323034.html
[24] www.focus.de/finanzen/versicherungen/krankenversicherung/gesundheitsfonds-nur-ein-kranker-kunde-ist-ein-guter-kunde_aid_323034.html.
[25] www.focus.de/finanzen/versicherungen/krankenversicherung/gesundheitsfonds-nur-ein-kranker-kunde-ist-ein-guter-kunde_aid_323034.html.
[26] www.focus.de/finanzen/versicherungen/krankenversicherung/gesundheitsfonds-nur-ein-kranker-kunde-ist-ein-guter-kunde_aid_323034.html.
[27] 209.85.135.104/search.
[28] www.focus.de/finanzen/versicherungen/krankenversicherung/gesundheitsfonds-nur-ein-kranker-kunde-ist-ein-guter-kunde_aid_323034.html.
[29] www.welt.de/wirtschaft/article2529080/Die-46-Millionen-Verlierer-des-Gesundheitsfonds.html.
[30] www.swr.de/nachrichten/-/id=396/nid=396/did=4031284/14tmf52/index.html.
[31] nachrichten.aol.de/nachrichten-wirtschaft/die-kassen-werden-ihre-leistungen-einschraenken/artikel/2008092909425792815333

Von Dr. Fabienne Diekmann