Schlussanträge des Generalanwalts Poiares Maduro in der Rechtssache C-210/06
Cartesio Oktató és Szolgáltató Bt.
In Bezug auf verfahrensrechtliche Aspekte des Vorabentscheidungsersuchen vertritt der Generalanwalt zudem die Ansicht, dass nationale Rechtsmittelgerichte untere Gerichte nicht verpflichten können, ein Vorabentscheidungsersuchen zurückzuziehen.
Eine nach ungarischem Recht errichtete Gesellschaft muss ihren operativen Geschäftssitz in Ungarn haben.
Cartesio ist eine in Ungarn registrierte Kommanditgesellschaft. Im November 2005 beantragte sie beim Handelsregistergericht, die Verlegung ihres operativen Geschäftssitzes von Ungarn nach Italien im Handelsregister einzutragen. Cartesio wollte trotzdem weiterhin als eine in Ungarn errichtete Gesellschaft dem ungarischen Gesellschaftsrecht unterliegen.
Das Handelsregistergericht wies diesen Antrag mit der Begründung zurück, dass das ungarische Recht ungarischen Gesellschaften nicht erlaube, ihren operativen Geschäftssitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen. Cartesio müsse zunächst in Ungarn aufgelöst und anschließend nach italienischem Recht neu gegründet werden.
Cartesio legte gegen den Beschluss des Handelsregistergerichts Rechtsmittel beim Szegedi Ítélőtábla (Rechtsmittelgericht Szeged) ein, das dem Gerichtshof die Frage vorgelegt hat, ob ungarische Rechtsvorschriften, die es einer ungarischen Gesellschaft verwehren, ihren operativen Geschäftssitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind.
In seinen heute vorgelegten Schlussanträgen vertritt Generalanwalt Poiares Maduro die Auffassung, dass die Bestimmungen des EG-Vertrags zur Niederlassungsfreiheit auf die vorliegende Rechtssache eindeutig anwendbar sind. Aus seiner Sicht behandeln die in Rede stehenden ungarischen Vorschriften grenzüberschreitende Sachverhalte ungünstiger als rein nationale Sachverhalte, da sie die Verlegung des operativen Geschäftssitzes einer Gesellschaft nur innerhalb Ungarns erlauben.
Auch wenn, so der Generalanwalt, Gesellschaften nur gemäß nationalem Recht bestehen und in den Mitgliedstaaten völlig unterschiedliche Gründungsvorschriften gelten, können diese die Verhältnisse der nach ihrem nationalen Recht errichteten Gesellschaften nicht völlig frei ohne Berücksichtigung der Folgen für die Niederlassungsfreiheit regeln.
Insbesondere für kleine und mittlere Gesellschaften kann eine innergemeinschaftliche Verlegung des operativen Geschäftssitzes nach Ansicht des Generalanwalts eine einfache und wirksame Möglichkeit sein, echte wirtschaftliche Tätigkeiten in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben, ohne den Kosten und administrativen Belastungen ausgesetzt zu sein, die mit der Abwicklung der Gesellschaft in ihrem Herkunftsstaat und dem anschließenden kompletten Wiederaufbau im anderen Mitgliedstaat verbunden sind. Außerdem kann die Abwicklung einer Gesellschaft in einem Mitgliedstaat und ihre anschließende Neugründung nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats viel Zeit in Anspruch nehmen, in der die betreffende Gesellschaft möglicherweise an der Fortsetzung des Geschäftsbetriebs gehindert ist. Der Generalanwalt sieht es daher als eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit an, wenn einer Gesellschaft die Verlegung ihres operativen Geschäftssitzes von einem Mitgliedstaat in einen anderen verwehrt wird.
Eine solche Beschränkung könnte allerdings aus Gründen des allgemeinen öffentlichen Interesses, wie z. B. zum Schutz vor Missbrauch oder betrügerischem Verhalten oder zum Schutz der Interessen von z. B. Gläubigern, Minderheitsgesellschaftern, Arbeitnehmern oder Finanzbehörden, gerechtfertigt sein. In der vorliegenden Rechtssache schließt jedoch das ungarische Recht die Verlegung des operativen Geschäftssitzes einer ungarischen Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat generell aus, ohne dass es dafür irgendeinen Rechtfertigungsgrund gäbe. Deshalb schlägt der Generalanwalt dem Gerichtshof vor, zu entscheiden, dass die in Rede stehenden ungarischen Rechtsvorschriften mit dem Grundsatz der Niederlassungsfreiheit nicht vereinbar sind.
In Bezug auf verfahrensrechtliche Aspekte des Vorabentscheidungsersuchens vertritt der Generalanwalt die Ansicht, dass nationale Verfahrensvorschriften oder nationale Rechtsmittelgerichte untere Gerichte nicht verpflichten können, ein Vorabentscheidungsersuchen zurückzuziehen und das ausgesetzte nationale Verfahren fortzusetzen. Vielmehr verleiht das Gemeinschaftsrecht allen Gerichten in allen Mitgliedstaaten das Recht, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, und dieses Recht kann nicht durch nationales Recht eingeschränkt werden.
Quelle: Pressemitteilung des EuGH vom 22. Mai 2008
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EuGH Generalanwalt Maduro: Eine Gesellschaft mit Sitz in einem Mitgliedstaat kann ihren operativen Sitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegen
EuGH, Gesellschaft, Wechsel des operativen Sitzes, Ungarn