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AG Rüsselsheim: Auslösen der Notrutsche durch einen Passagier stellt aussergewöhnlichen Umstand iSd VO (EG) 261/04 dar

AG Rüsselsheim, Urteil vom 11.07.2012 - 3 C 497/12 (36)

Im Namen des Volkes
Urteil

In dem Rechtsstreit

Kläger

gegen

Beklagte

hat das Amtsgericht Rüsselsheim durch den Richter ... aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 30.05.2012 für Recht erkannt:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.


Tatbestand

Von der Ausführung des Tatbestandes wird gemäß § 313 a Abs. 1 ZPO abgesehen.


Entscheidungsgründe


Die Klage ist unbegründet.

Die Klägerseite hat keinen Anspruch auf Leistung von Ausgleichszahlungen gemäß Art. 7 Abs. 1 lit. b), Art. 6 Abs. 1 VO. Nach den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs vom 19.11.2009 (Aktenzeichen C-402/07 und C-432/07) sowie des Bundesgerichtshofs vom 18.02.2010 (Aktenzeichen Xa ZR 95/06) sind die Art. 5, 6 und 7 VO dahin auszulegen, dass die Fluggäste verspäteter Flüge im Hinblick auf die Anwendung des Ausgleichsanspruchs den Fluggästen annullierter Flüge gleichzustellen sind, wenn sie wegen eines verspäteten Fluges einen Zeitverlust von 3 h oder mehr erleiden, ihr Ziel also nicht früher als 3 h nach der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen.

Der Ausgleichsanspruch ist jedoch entsprechend Art. 5 Abs. 3 VO ausgeschlossen, da die Verspätung auf außergewöhnliche Umstände im Sinne dieser Vorschrift zurückgeht. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesgerichtshofs soll ein Ausgleichsanspruch in entsprechender Anwendung des Art. 5 Abs. 3 VO entfallen, wenn das Luftfahrtunternehmen nachweisen kann, dass die große Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären; dies ist vorliegend der Fall.

Das für den Flug des Klägers vorgesehene Flugzeug konnte unstreitig nicht pünktlich abfliegen, weil der Passagier ... während der Vorbereitung des Startvorgangs durch Ziehen des Verriegelungshebels die Notrutsche über der Tragfläche des Flugzeugs ausgelöst hat, woraufhin der Flug abgebrochen werden musste. Das eigenverantwortliche Handeln eines Dritten - auch eines Flugpassagiers - stellt einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne des Art. 5 Abs. 3 VO dar. In Erwägungsgrund 14 der VO wird erkennbar, dass der Verordnungsgeber bei den haftungsausschließenden außergewöhnlichen Umständen ersichtlich solche im Blick hatte, die außerhalb der Sphäre des Luftfahrtunternehmens liegen und sich dessen Beherrschung entziehen.

Das eigenverantwortliche Auslösen der Notrutsche durch einen Fluggast ist kein typisches und in Ausübung der betrieblichen Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens vorkommendes Ereignis. Das vorgetragene Geschehen stellt in der kommerziellen Fluggastbeförderung vielmehr eine absolute Ausnahme dar. Es ist für die Beklagte auch nicht beherrschbar, da die Flugzeugbesatzung einem Fluggast im Hinblick auf die Flugsicherheit zwar konkrete Anordnungen erteilen, diesen freilich aber nicht in einer Weise kontrollieren kann, die eigenverantwortliche Störungen des Ablaufs durch den Fluggast vollständig ausschließt. Das Verhalten eines Fluggastes ist auch nicht der besonderen Risikosphäre der Beklagten zuzuordnen oder ihr auf andere Weise zuzurechnen, sondern stellt sich für beide Parteien gleichermaßen als von außen kommendes Ereignis dar.

Es standen der Beklagten auch keine zumutbaren Maßnahmen zur Verfügung, um das Auslösen der Notrutsche durch den Fluggast zu verhindern. Eine - über die gesetzlichen Informationspflichten hinausgehende - Anweisung an die Flugpassagiere, es ohne besonderen Anlass zu unterlassen, während der Vorbereitungen des Startvorgangs die gesondert gesicherte Notrutsche des Flugzeugs über den nicht ohne Weiteres zu überwindenden Verriegelungsmechanismus auszulösen, ist nicht geboten. Dies ist nach Auffassung des Gerichts für einen gesunden Erwachsenen selbstverständlich.

Es kann dahinstehen, ob die Beklagte in ausreichendem Umfang Maßnahmen ergriffen hat, um eine weitere Verspätung nach dem Eintritt des außergewöhnlichen Umstandes zu vermeiden. Nach dem Wortlaut von Art. 5 Abs. 3 VO hat die Beklagte die ihr zumutbaren Maßnahmen allein im Hinblick auf die Vermeidung von außergewöhnlichen Umständen, nicht aber im Hinblick auf die Vermeidung einer Annullierung oder großen Verspätung zu ergreifen. An seiner bisherigen Rechtsauffassung, nach der die von der Beklagten nach Art. 5 Abs. 3 VO zu ergreifenden zumutbaren Maßnahmen auch solche Maßnahmen umfassen, die erst nach dem Auftreten außergewöhnlicher Umstände ergriffen werden können und der Vermeidung einer weiteren Verspätung dienen, hält das Gericht ausdrücklich nicht länger fest, sondern schließt sich der im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 18.04.2012 geäußerten Rechtsauffassung des Landgerichts Darmstadt (Az. 7 S 247/11) an, nach der ein „Wiederaufleben“ der Haftung nach Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstandes nicht in Betracht kommt.

Bei Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstandes kann es auf die nach dessen Eintritt getroffenen Maßnahmen des Luftfahrtunternehmens nicht ankommen, da dies anderenfalls zu einer Ungleichbehandlung einer Annullierung, für die allein der Verordnungsgeber Art. 5 VO ursprünglich vorgesehen hatte, und einer „großen Verspätung“ (von über 3 h) führen würde. Annulliert ein Luftfahrtunternehmen infolge des Vorliegens eines außergewöhnlichen Umstandes einen Flug, so entfällt die Haftung nach Art. 5 Abs. 3 VO. Sieht ein Luftfahrtunternehmen indes - nicht zuletzt auch im Interesse der Fluggäste - von einer Annullierung dieses Fluges ab und verspätet diesen lediglich, so darf es allein deshalb gegenüber einer Annullierung nicht in der Weise schlechter gestellt werden, als das Entfallen der Haftung nach Art. 5 Abs. 3 VO nun davon abhängt, ob das Luftfahrtunternehmen auch nach Vorliegen des außergewöhnlichen Umstandes alle ihm zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat (so im Ergebnis auch Landgericht Darmstadt, a. a. O.).

Eine weitergehende Auslegung des Art. 5 Abs. 3 VO in dem Sinne, dass ein Luftfahrtunternehmen nach dem Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstandes alle zumutbaren Maßnahmen auch zur Vermeidung einer großen Verspätung zu ergreifen hat, überdehnt den Regelungsgehalt der Vorschrift und den vom Verordnungsgeber ins Auge gefassten Sinn und Zweck der Regelung, die bei Erlass der Verordnung nur für den Fall einer Annullierung gedacht gewesen ist. Eine Benachteiligung der Fluggäste ist auch ohne Sanktionierung einer sich vertiefenden Verspätung durch drohende Ausgleichsleistungen nicht zu besorgen, da das Luftfahrtunternehmen sowohl bereits aus Eigeninteresse als auch im Hinblick auf die zu erbringenden Betreuungsleistungen nach Art. 9 VO gehalten ist, einen verspäteten Flug möglichst zeitnah durchzuführen.

Vor dem Hintergrund des Vorgenannten kommt es nicht auf die - in Anbetracht des entgegenstehenden Beklagtenvortrags erkennbar ins Blaue hinein aufgestellte, hiernach aber jedenfalls unsubstantiierte - Behauptung der Klägerseite an, dass ein „Austausch“ der Notrutsche an einer voll beladenen und betankten Maschine ohne Weiteres innerhalb von ca. 30 min möglich gewesen wäre.

Da die Hauptforderung nicht besteht, sind auch Nebenforderungen nicht gegeben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 11, 713 ZPO.