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LG Stuttgart: Auch Kleinkinder - Babys - haben einen Anspruch auf Ausgleichszahlung bei Flugverspätung wenn für diese ein Flugticket gekauft wurde

Das Landgericht Stuttgart hat entschieden, dass auch Kleinkinder bzw. Babys, die keinen eigenen Sitzplatz erhalten haben, einen Anspruch auf eine Ausgleichzahlung gem. Art. 7 der FluggastVO haben können, sofern diese nicht kostenlos mitreisen durften.


Landgericht Stuttgart, Urteil vom 7.11.2012, Az.: 13 S 95/12

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Nürtingen vom 12.04.2012 - Az.17 C 2298/11 - wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten der Berufung.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das Urteil des Amtsgerichts ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Streitwert des Berufungsverfahrens: 1.000 Euro


Gründe
     
I.
    
Auf die tatsächlichen Feststellungen im Urteil des Amtsgerichts Nürtingen vom 12.04.2012 wird gem. § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen. Von der Darstellung des Berufungsvorbringens wird gem. § 540 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 i. V. m. § 313 a Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen.

II.
    
Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
    
Die Klage der minderjährigen Kinder, des Klägers zu 2 und der Klägerin zu 3, ist zulässig. Die Kinder werden wirksam durch ihre Eltern gemeinsam vertreten, § 1629 Abs. 1 S. 2 BGB. Sie konnten ihrem Vater, dem Kläger zu 1, auch wirksam eine Prozessvollmacht erteilen. § 181 BGB ist nicht verletzt. Bei der Erteilung einer Prozessvollmacht handelt es sich nämlich nicht um ein Rechtsgeschäft im Sinne von § 181 BGB (BGHZ 41, 104).
    
Zutreffend gelangt das Amtsgericht zu dem Ergebnis, dass den Klägern sowie der Ehefrau des Klägers zu 1 aufgrund der entsprechenden Anwendung des Art. 7 Abs. 1 a) VO (EG) 261/2004 jeweils ein Ausgleichsanspruch gegen die Beklagte in Höhe von 250 EUR zusteht.
    
a) Der Kläger zu 1 ist zur Geltendmachung der Ansprüche seiner Ehefrau aktivlegitimiert, da diese ihre Ansprüche am 09.12.2011 an den Kläger zu 1 abgetreten hat. Bei der Abtretungserklärung, die der Kläger zu 1 vorlegt (Bl. 20 d. A.; Anlage K 6) handelt es sich um einer Privaturkunde gem. § 440 Abs. 1 ZPO, deren Echtheit der Kläger zu beweisen hat. Der Kläger legte die Kopie des Personalausweises seiner Ehefrau vor (Bl. 121 d. A.; Anlage K 7). Das Amtsgericht gelangte zu der Auffassung, dass der Beweis der Echtheit der Abtretungsurkunde damit geführt wurde, es nahm in zulässiger Weise einen Schriftvergleich gem. § 441 Abs. 1 ZPO durch Inaugenscheinnahme gem. § 371 ZPO vor (Geimer/ Zöller, ZPO, 28. Aufl., § 441 Rn. 1). Das Amtsgericht ist zu dieser Erkenntnis aufgrund freier Überzeugungsbildung gem. § 286 ZPO rechtfehlerfrei gelangt. Das Berufungsgericht ist gem. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an die Feststellungen des Amtsgerichts gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder der Vollständigkeit begründen. Solche Anhaltspunkte ergeben sich weder aus der Akte noch aus der Berufungsbegründung.
    
b) Rechtsfehlerfrei ließ es das Amtsgericht dahin stehen, ob der streitgegenständliche Flug am 28.10.2011 annulliert wurde. Unstreitig ist, dass die Kläger und die Ehefrau des Klägers zu 1 ihr Reiseziel (Palma de Mallorca) mit mehr als dreistündiger Verspätung erreichten.
    
Somit liegen die Voraussetzungen vor, unter denen nach der Rechtsprechung des EuGH vom 19.11.2009 (EuGH NJW 2010, 43) und vom 23.10.2012 (Urteil des EuGH in den verbundenen Rechtssachen C-581/10 und C-629/10; abrufbar von der Homepage des EuGH, curia.europa.eu) Fluggästen verspäteter Flüge ein Ausgleichsanspruch wie im Fall eines annullierten Fluges zusteht. Die Kammer folgte bereits in ihrer bisherigen Rechtsprechung - worauf sie die Parteien vorab hingewiesen hatte - der Auffassung des EuGH, die dieser mit Urteil vom 19.11.2009 etabliert hatte (siehe unter anderem Urteil vom 21.03.2012, Az. 13 S 93/11; Urteil vom 22.08.2012, Az. 13 S 42/12; Urteil vom 26.09.2012, Az. 13 S 60/12). Sie sieht sich in ihrer Ansicht bestätigt, nachdem auch der EuGH nunmehr mit Urteil vom 23.10.2012 seine Rechtsauffassung ausdrücklich bestätigte: Er machte nochmals deutlich, dass die Art. 5 bis 7 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen sind, dass den Fluggästen verspäteter Flüge ein Ausgleichsanspruch nach dieser Verordnung zustehe, wenn sie aufgrund dieser Flüge einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden, d. h. wenn sie ihr Endziel nicht früher als drei Stunden nach der vom Luftfahrunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen (Urteil des EuGH vom 23.10.2012 in den verbundenen Rechtssachen C-581/10 und C-629/10, Rn. 40; zit. nach curia).

Etwas anderes kann nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofes dann gelten, wenn das Luftfahrtunternehmen nachweisen kann, dass die große Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären (EuGH, a. a. O., Rn. 40). Solches macht die Beklagte im vorliegenden Fall aber nicht geltend.
    
An die Entscheidungen des EuGH vom 19.11.2009 (EuGH NJW 2010, 43) und vom 23.10.2012 ist die Kammer zwar rechtlich nicht gebunden, denn Vorabentscheidungen des EuGH entfalten außerhalb des Ausgangsrechtsstreits keine unmittelbare Bindungswirkung (Schwarze, EU-Kommentar, 2. Auflage, Art. 234 EGV, Rn. 66). Allerdings haben sie aufgrund ihrer Leitfunktion für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts über den Einzelfall hinaus eine tatsächlich rechtsbildende Wirkung, die einer „erga omnes“-Wirkung zumindest nahe kommt (vgl. Schwarze, EU-Kommentar, 2. Auflage, Art. 234 EGV, Rn. 66 m.w.N.)
    
Die Kammer sieht keinen Anlass, von der Rechtsprechung des EuGH abzuweichen, wonach ein Ausgleichsanspruch auch Fluggästen verspäteter Flüge zustehen kann. Auch der BGH legt der Entscheidung vom 09.12.2010 (BGH NJW 2011, 880) zur VO (EG) Nr. 261/2004 die Vorabentscheidung des EuGH vom 19.11.2009 zugrunde (LG Stuttgart, Urteil vom 21.03.2012, Az. 13 S 93/11).
    
Eine erneute Vorlage an den EuGH kommt nach Ansicht der Kammer nicht in Betracht, nachdem der EuGH seine Rechtsauffassung mit Urteil vom 23.10.2012 in den verbundenen Rechtssachen C-581/10 (Vorlage durch das Amtsgericht Köln) und C-629/10 (Vorlage durch den High Court of Justice) nochmals bestätigte.
    
d) Auch der Klägerin zu 3, die zum Zeitpunkt des Fluges 16 Monate alt war, steht ein Ausgleichsanspruch in analoger Anwendung von Art. 7 Abs. 1 a) VO (EG) 261/2004 zu, da auch sie in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt.
    
Die Klägerin zu 3 verfügte gem. Art. 3 Abs. 2 a) über eine bestätigte Buchung. Nach dem erstinstanzlichen Vortrag der Kläger handelte es sich bereits bei der Anlage K 1 (Bl. 8 f. d. A.) um eine Buchungsbestätigung, in der die Klägerin zu 3 ausdrücklich namentlich erwähnt ist. Soweit die Beklagte dies in 2. Instanz bestreitet, ist dieses Vorbringen gem. § 531 Abs. 2 ZPO verspätet. Im Übrigen ist die Klägerin zu 3 auch in der Anlage ausdrücklich namentlich erwähnt, die die Beklagtenvertreterin in der mündlichen Verhandlung vom 24.10.2012 übergab und die mit dem Begriff „Buchungsbestätigung“ überschrieben ist.
    
Die Klägerin zu 3 ist nicht kostenlos im Sinne von Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 261/2004 gereist, was die Beklagte auch nicht behauptet (Schriftsatz der Beklagten vom 13.03.2012, Seite 10; Bl. 131 d. A.). Die Klägerin zu 3 ist auch nicht zu einem reduzierten Tarif gereist, der für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbar ist. Dahin stehen kann, ob die Klägerin zu 3 für ihren Flug 82,50 Euro oder - wie die Beklagte in der mündlichen Verhandlung vom 24.10.2012 vortrug - 15 Euro bezahlte. Die Beklagte räumt selbst ein, dass die Klägerin zu 3 zu einem reduzierten Tarif reiste (Schriftsatz vom 13.03.2012, Seite 10, Bl. 131 d. A.). Nach unstreitigem Vortrag des Klägers zu 1 buchte er die Reise über das Internetportal opodo, das jedermann zugänglich ist. Die Beklagte hat nicht dargelegt, warum dieser Tarif öffentlich nicht verfügbar gewesen sein sollte.
    
Entgegen der Ansicht der Beklagten kommt es für die Frage der Anwendbarkeit der Verordnung 261/2004 nicht darauf an, ob das Kleinkind einen eigenen Sitzplatz hatte.
    
2. Es besteht keine Veranlassung, das vorliegende Verfahren gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen oder entsprechend § 148 ZPO auszusetzen.
    
a) Die Beklagte fordert die Vorlage des Verfahrens zur Vorabentscheidung über die Frage, ob die vom EuGH vorgenommene Auslegung, dass nämlich einem von einer Verspätung von mehr als 3 Stunden betroffenen Fluggast eine Ausgleichszahlung gem. Art. 7 der VO Nr.261/2004 zusteht, mit den Grundsätzen der Verfassung der Europäischen Gemeinschaft vereinbar ist (Hilfsantrag Nr. 1) Art. 267 AEUV ermöglicht eine Vorlage zur „Gültigkeit und Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft“. Die Kammer hat keinen Zweifel an der Gültigkeit der Entscheidungen des EuGH vom 19.11.2009 und vom 23.10.2012. Sie hat auch keinen Zweifel an der Auslegung der Entscheidungen.
    
b) Die Beklagte möchte im Wege der Vorabentscheidung des weiteren geklärt haben, ob die Zuerkennung einer Ausgleichszahlung im Falle einer Flugverspätung unvereinbar mit Art. 29 des Montrealer Übereinkommen ist (Hilfsantrag Nr. 1, 2. Teil).
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Das Montrealer Übereinkommen begrenzt die Verpflichtung von Schadensersatzzahlungen, schließt jedoch nicht weitergehende Leistungen, die nicht auf Schadensersatz gerichtet sind, aus. So sieht es auch der EuGH in seinem Urteil vom 01.10.2006 (Aktenzeichen C-344/04). Das Gericht betont, den Bestimmungen der Art. 19, 22 und 29 MÜ sei klar zu entnehmen, dass sie nur regeln, unter welchen Voraussetzungen Fluggäste im Anschluss an die Verspätung eines Fluges Ansprüche auf Schadensersatz als individuelle Wiedergutmachung gegen die Beförderungsunternehmen geltend machen können, die für einen aus einer Verspätung entstandenen Schaden die Verantwortung tragen. Weder aus den zitierten noch aus einer anderen Bestimmung des Montrealer Übereinkommens ergebe sich jedoch, dass dessen Verfasser solche Beförderungsunternehmen vor allen andersartigen Maßnahmen hätten bewahren wollen (so auch der EuGH im Urteil vom 23.10.2012; Rn. 46). Auch der BGH hat in seinem Urteil vom 18.02.2010 (BGH NJW 2010, 2281) ausgeführt, er gehe davon aus, dass das vom EuGH vertretene Auslegungsergebnis in der Entscheidung vom 19.11.2009 (EuGH NJW 2010, 43 ff.) mit dem Montrealer Übereinkommen vereinbar sei. Dies bestätigt der EuGH selbst in seinem Urteil vom 23.10.2012 (Rn. 56).
    
3. Soweit die Beklagte die Aussetzung im Hinblick auf das Vorlageverfahren des AG Köln (Beschluss vom 03.11.2010, Aktenzeichen 142 C 535/08; Rs C-581/10) und das Vorlageverfahren des High Court of Justice (England and Wales) vom 24.12.2010 (Rs C-629/10) begehrt (Hilfsantrag Nr. 2), kommt eine Aussetzung schon deshalb nicht in Betracht, weil der EuGH mit Urteil vom 23.10.2012 über die Vorlagefragen entschieden hat. Im Hinblick auf den Beschluss des Landgerichts Köln vom 26.07.2011 (Aktenzeichen 10 S 224/10, C-413/11 beim EuGH), gilt das zum Hilfsantrag Nr. 1 Gesagte. Eine Pflicht zur Aussetzung dieses Verfahrens entsprechend § 148 ZPO besteht nicht, da die Kammer nicht von der Unwirksamkeit des Gemeinschaftsrechtsaktes ausgeht (vgl. EuGH NJW 1988, 1451) und auch nicht von der Rechtsprechung des EuGH abweichen will (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 29. Auflage, § 148, Rn. 7). Der EuGH hat in seinen Entscheidungen vom 19.11.2009 und vom 23.10.2012 Grundsätze aufgestellt, unter die sich der hier zu entscheidende Fall problemlos fassen lässt. Es ist auch nicht erkennbar, dass die hier entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet ist, wie die Beklagte mit Verweis auf die Entscheidung des BVerfG vom 25.02.2010 (Aktenzeichen 1 BvR 230/09) meint.
    
4. Auch die Kostenentscheidung des Amtsgerichts erweist sich als zutreffend. Zwar haben die Kläger die Klage in Höhe von 83,54 Euro zurückgenommen. Die Geringfügigkeitsgrenze gem. § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO von 10 % wurde im Hinblick auf einen Streitwert von 1.000 Euro damit nicht überschritten. Es war folglich gerechtfertigt, der Beklagten die gesamten Kosten aufzuerlegen.

III.
    
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

IV.
    
Gründe, die Revision gem. § 543 ZPO zuzulassen liegen nicht vor. Insbesondere erfordert die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung gem. § 543 Abs. 2 Nr. 2, 2. Alt. ZPO nicht eine Entscheidung des Revisionsgerichts.
    
Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen bei einer großen Verspätung Fluggästen aufgrund der VO (EG) Nr. 261/2004 ein Anspruch auf Ausgleichszahlungen zusteht, war in der erst- und zweitinstanzlichen Rechtsprechung nach der Entscheidung des EuGH vom 19.11.2009 (EuGH NJW 2010, 43) umstritten. Unter anderem das Amtsgerichts Köln und der High Court of Justice haben deshalb erneut Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gestellt (Rs. C-581/10 Rs. C-629/10). Der EuGH hat mit Urteil vom 23.10.2012 beide Vorabentscheidungsersuchen beantwortet und seine Rechtsprechung aus dem Urteil vom 19.11.2009 nochmals ausdrücklich bestätigt. Er hat insbesondere die Frage eindeutig beantwortet hat, ob und unter welchen Voraussetzungen bei einer großen Verspätung Fluggästen aufgrund der VO (EG) Nr. 261/2004 ein Anspruch auf Ausgleichszahlungen zusteht.
    
Zwar sind deutsche Gerichte rechtlich nicht an die Entscheidungen des EuGH gebunden, allerdings haben sie aufgrund ihrer Leitfunktion für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts über den Einzelfall hinaus eine tatsächlich rechtsbildende Wirkung, die einer „erga omnes“-Wirkung zumindest nahe kommt (vgl. Schwarze, EU-Kommentar, 2. Auflage, Art. 234 EGV, Rn. 66 m.w.N.). Die Einheitlichkeit der Rechtsprechung ist mit dem Urteil des EuGH vom 23.10.2012 aus Sicht der Kammer gesichert. Eine Revisionszulassung kommt nicht in Betracht.