BGH, Urteil vom 13.11.2013 - X ZR 115/12
1. Kehrt der Fluggast, der wegen eines verspäteten Flugs einen gebuchten Anschlussflug verpasst hat und mit einem ihm angebotenen Ersatzflug sein Endziel nicht früher als drei Stunden nach der vorgesehenen Ankunftszeit erreichen kann, zum ersten Abflugort zurück, steht ihm gleichwohl ein Ausgleichsanspruch wegen erheblicher Verspätung zu. (amtlicher Leitsatz)
2. Die Verspätung eines Flugs geht regelmäßig auf außergewöhnliche Umstände zurück, wenn sie darauf beruht, dass das pünktlich gestartete Flugzeug am Ankunftsflughafen keine Landeerlaubnis erhält. (amtlicher Leitsatz)
Rechtsgebiete:
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 13. November 2013
für Recht erkannt:
Die Revision gegen das am 29. August 2012 verkündete Urteil der Zivilkammer 18 des Landgerichts Hamburg wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger buchte bei der Beklagten eine Flugreise von Hamburg über Paris nach Atlanta. Der Zubringerflug nach Paris startete am 27. April 2006 pünktlich um 13.35 Uhr, landete jedoch mit einer Verspätung von 25 Minuten um 15.35 Uhr, weil zunächst keine Landeerlaubnis erteilt wurde. Der Kläger verpasste infolgedessen den für 15.55 Uhr vorgesehenen, pünktlich abgehenden Anschlussflug nach Atlanta. Da ein Weiterflug nach Atlanta erst wieder am nächsten Tag möglich war, bemühte sich der Kläger um eine entsprechende Verschiebung seines ursprünglich für den 27. April 2006 in Atlanta geplanten Geschäftstermins. Der Termin konnte jedoch erst mehrere Tage später stattfinden. Der Kläger ließ daher den Flug nach Atlanta entsprechend umbuchen und reiste zunächst nach Hause zurück.
Der Kläger verlangt, soweit für das Revisionsverfahren von Interesse, eine Ausgleichszahlung nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. EU L 46 vom 17. Februar 2004, S. 1 ff.; im Folgenden: Fluggastrechteverordnung) sowie Ersatz außergerichtlicher Kosten.
Die Klage ist in beiden Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger den Ausgleichsanspruch weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
Die Voraussetzungen für einen Ausgleichsanspruch nach Art. 7 Abs. 1 FluggastrechteVO wegen Verspätung lägen nicht vor. Verspätete Flüge im Sinne der Fluggastrechteverordnung seien nur solche, bei denen sich der Abflug um eine in Art. 6 FluggastrechteVO genannte Zeitdauer verzögere. Im Streitfall habe sich lediglich die Ankunft des Klägers am Zwischenziel verzögert. Es fehle daher bereits am Tatbestand einer Verzögerung beim Abflug. Unabhängig hiervon liege die Verspätung unterhalb der nach der Fluggastrechteverordnung maßgeblichen Schwelle, die im Streitfall vier Stunden betrage, da für die Berechnung der Verspätung nicht isoliert auf die Verspätung des ersten Flugs von Hamburg nach Paris, sondern auf den Flug von Hamburg nach Atlanta als Einheit abzustellen sei. Da der Flug von Paris nach Atlanta ohne Verspätung gestartet sei, liege, auch wenn man vom Erfordernis einer Abflugverspätung absähe und eine reine Ankunftsverspätung genügen ließe, allenfalls eine Verspätung von 25 Minuten vor.
II.
Dies hält zwar der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Die Entscheidung des Berufungsgerichts stellt sich jedoch aus anderen Gründen im Ergebnis gleichwohl als richtig dar (§ 561 ZPO).
1 . Die Fluggastrechteverordnung ist anwendbar, da der Kläger auf einem Flughafen auf dem Gebiet der Europäischen Union einen Flug, nämlich den ersten gebuchten Flug von Hamburg nach Paris, angetreten hat (Art. 3 Abs. 1 Buchst. a FluggastrechteVO).
2 .Die verspätete Ankunft dieses Flugs hat dazu geführt, dass der Kläger sein Endziel Atlanta nicht früher als drei Stunden nach der geplanten Ankunft errei- chen konnte. Damit sind entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts die tatbe- standlichen Voraussetzungen für den mit der Klage geltend gemachten Ausgleichs- anspruch nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. c FluggastrechteVO grundsätzlich erfüllt (BGH, Urteil vom 7. Mai 2013 - X ZR 127/11, NJW-RR 2013, 1065).
3.Der Ausgleichsanspruch ist auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Kläger den ihm für den verpassten Anschlussflug angebotenen Flug nach Atlanta am Folgetag aufgrund der nicht möglichen Verschiebung seines Geschäftstermins auf den 28. April 2006 nicht angetreten hat. Dass nicht nur den Fluggästen annullierter Flüge, sondern auch den Fluggästen verspäteter Flüge der in Art. 7 Fluggastrechte-VO vorgesehene Anspruch auf Ausgleich zugebilligt wird, beruht im Wesentlichen auf der Erwägung, dass die Fluggastrechteverordnung darauf abzielt, die Nachteile standardisiert auszugleichen, die sich - nicht anders als bei der Annullierung - aus dem hierdurch verursachten Zeitverlust der betroffenen Fluggäste ergeben und als solche irreversibel sind (EuGH, Urteil vom 19. November 2009 - C-402/07, NJW 2010, 43 Rn. 51-53 = RRa 2009, 282 - Sturgeon/Condor). Ein solcher Zeitverlust ist auch beim Kläger eingetreten. Er hat zwar den Weiterflug nicht angetreten. Gleichwohl hat er einen Zeitverlust insofern erlitten, als er sein Endziel Atlanta nicht früher als drei und auch nicht früher als vier Stunden nach der vorgesehenen Ankunftszeit erreichen konnte, weshalb es ihm nicht möglich war, den dort vorgesehenen Geschäftstermin wahrzunehmen.
Dass deswegen die Weiterreise nach Atlanta am Folgetag nutzlos gewesen wäre und der Kläger folglich die Reise in Paris abgebrochen hat, ändert hieran nichts. Dies wäre auch unerheblich, wenn der Umstand, dass der Kläger Atlanta nicht früher als vier Stunden nach der vorgesehenen Ankunftszeit erreichen konnte, nicht auf einer Verspätung, sondern auf einer Annullierung beruht hätte. Auch dann hätte es dem Kläger freigestanden, eine ihm angebotene anderweitige Beförderung in Anspruch zu nehmen oder sich für eine Erstattung des Flugpreises und einen Rückflug zum ersten Abflugort zum frühestmöglichen Zeitpunkt (Art. 8 Abs. 1 Buchst. a Flug-gastrechteVO) zu entscheiden. Die Verpflichtung der Beklagten zur Ausgleichsleistung nach Art. 7 FluggastrechteVO wäre hiervon unberührt geblieben. Die Beklagte hätte lediglich, wenn sie dem Kläger eine anderweitige Beförderung mit einem Flug hätte anbieten können, dessen Ankunftszeit nicht später als vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit des ursprünglich gebuchten Flugs gelegen hätte, die Ausgleichszahlung nach Art. 7 Abs. 2 Buchst. c FluggastrechteVO um die Hälfte kürzen können. Im Verspätungsfall kann nichts anderes gelten.
4. Die Beklagte ist jedoch nach Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO von der Verpflichtung zur Ausgleichszahlung befreit, weil die verspätete Ankunft in Paris auf außergewöhnlichen Umständen beruht und mit zumutbaren Maßnahmen von der Beklagten nicht zu vermeiden war.
a) Die verzögerte Erteilung einer Landeerlaubnis am Ankunftsflughafen begründet grundsätzlich außergewöhnliche Umstände im Sinne des Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO.
(1) Der Begriff der außergewöhnlichen Umstände, der weder in Art. 2 noch in sonstigen Vorschriften der Verordnung definiert ist, bedeutet nach seinem Wortlaut, dass die gegebenenfalls zu einem Wegfall der Ausgleichspflicht führenden Umstände außergewöhnlich sind, d.h. nicht dem gewöhnlichen Lauf der Dinge entsprechen, sondern außerhalb dessen liegen, was üblicherweise mit dem Ablauf der Personenbeförderung im Luftverkehr verbunden ist oder verbunden sein kann. Es sollen Ereignisse erfasst werden, die nicht zum Betrieb des Luftverkehrsunternehmens gehören, sondern als - jedenfalls in der Regel von außen kommende - besondere Umstände dessen ordnungs- und plangemäße Durchführung beeinträchtigen oder unmöglich machen können. Dementsprechend führen außergewöhnliche Ereignisse nicht per se zum Wegfall der Ausgleichspflicht. Dies ist vielmehr nur dann der Fall, wenn sich ihre Folgen für die planmäßige Durchführung des Flugplans des Luftverkehrsunternehmens auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn von diesem alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Dies macht zugleich deutlich, dass ein bestimmtes außergewöhnliches Ereignis wie beispielsweise ein Erdbeben oder ein Orkan nicht schon für sich genommen zur Entlastung des Luftverkehrsunternehmens führt, sondern nur dann, wenn die hierdurch hervorgerufenen Bedingungen für die Durchführung eines geplanten Flugs auch bei Aufbietung aller möglichen und zumutbaren Mittel nicht in der Weise verändert oder sonst beeinflusst werden können, dass ein hiervon betroffener Flug planmäßig durchgeführt werden kann (EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2008, C-549/07, NJW 2009, 347 Rn. 22 = RRa 2009, 35 - Wallentin-Hermann/Alitalia; BGH, Urteil vom 21. August 2012 - X ZR 138/11, BGHZ 194, 258 Rn. 11; Urteil vom 24. September 2013 - X ZR 160/12, juris).
(2) Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe begründet die Verweigerung oder die verzögerte Erteilung einer Landeerlaubnis grundsätzlich außergewöhnliche Umstände. Das Luftverkehrsunternehmen muss bei seiner Planung von den im Flugplan vorgesehenen Start- und Landezeiten ausgehen und selbst alles ihm Mögliche und Zumutbare tun, damit von seiner Seite die Voraussetzungen für die Einhaltung des Flugplans geschaffen und aufrechterhalten werden. Das Luftverkehrsunternehmen, dem für einen bestimmten Flug eine Startzeit am Abflugort und eine Landezeit am Ankunftsort zugewiesen sind, hat jedoch keinen Einfluss darauf, ob ihm, auch wenn es selbst alle hierfür erforderlichen tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen erfüllt, tatsächlich auch der Abflug zur vorgesehenen Zeit und die Landung zur vorgesehenen Zeit gestattet werden. Nicht anders als Wetterbedingungen, die der planmäßigen Durchführung eines Flugs entgegenstehen, können Entscheidungen der Luftverkehrsbehörden oder eines Flughafenbetreibers "von außen" in den vorgesehenen Flugverlauf eingreifen. Erwägungsgrund 15 der Fluggastrechteverordnung zählt demgemäß "Entscheidungen des Flugverkehrsmanagements" (air traffic management decision; decision relative ä la gestion du trafic aerien) zu einem einzelnen Flugzeug, die unvermeidbare Verspätungen oder Annullierungen von mit diesem zu absolvierenden Flügen zur Folge haben, zu den außergewöhnlichen Umständen.
b) Im Streitfall begründet die verzögerte Erteilung der Landeerlaubnis außergewöhnliche Umstände im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der FluggastrechteVO.
Nach dem vom Berufungsgericht festgestellten Sachverhalt steht - insoweit von der Revision unbeanstandet - fest, dass der Beklagten in Paris die Landeerlaubnis verzögert erteilt worden ist. Der Flug von Hamburg nach Paris ist nach den - ebenfalls unbeanstandeten - Feststellungen des Berufungsgerichts pünktlich gestartet. Damit bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte nicht alles ihr Mögliche und Zumutbare getan hat, um von ihrer Seite die Voraussetzungen für die Einhaltung des Flugplans und eine pünktliche Ankunft in Paris zu schaffen. Wenn ihr unter diesen Bedingungen die Landung nicht zur vorgesehenen Zeit gestattet wird, liegt dies nicht im Einflussbereich der Beklagten. Sie hat auch dann den Anordnungen des Flugverkehrsmanagements Folge zu leisten, ohne diese hinterfragen zu können.
Die Rüge der Revision, das Berufungsgericht habe übergangen, dass der Kläger jeglichen Zusammenhang zwischen der Verzögerung der Landeerlaubnis und der Situation im Luftraum bestritten habe, und damit auch offen geblieben sei, ob die Verzögerung auf ein Verhalten der Beklagten, etwa auf Sicherheitsbedenken gegen das von ihr eingesetzte Flugzeug beruht habe, ist demnach nicht geeignet, die Annahme außergewöhnlicher Umstände im Streitfall in Frage zu stellen. Die Revision zeigt nicht auf, dass der Kläger vorgetragen hat, die Verzögerung der Landeerlaubnis sei von der Beklagten verursacht worden.
c) Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass die Beklagte die Verspätung hätte vermeiden können. Soweit die Revision meint, es sei nicht festgestellt, dass die Überfüllung des Luftraums der Beklagten nicht bekannt gewesen sei und sie die Verspätung nicht durch eine Erhöhung der Fluggeschwindigkeit hätte vermeiden können, zeigt sie damit nicht auf, dass die Beklagten die verspätete Landung mit zumutbaren Maßnahmen hätte abwenden können. Selbst wenn die Beklagte, wovon nicht ausgegangen werden kann, in der Lage gewesen wäre, beim Abflug von Hamburg die Verhältnisse im Pariser Luftraum zum Zeitpunkt der vorgesehenen Landung hinreichend genau zu prognostizieren, hätte sie, auch wenn sie den Versuch unternommen hätte (und dieser technisch möglich gewesen wäre), den Pariser Luftraumetwas früher zu erreichen, nicht sicher damit rechnen können, deswegen auch eine frühere Landeerlaubnis zu erhalten.
5. Die Verfahrensrüge der Revision hat der Senat geprüft und für nicht durchgreifend erachtet (§ 564 ZPO).
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Vorinstanzen:
AG Hamburg, Entscheidung vom 02.02.2011 - 6 C 218/08 –
LG Hamburg, Entscheidung vom 29.08.2012 - 318 S 56/11
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BGH: Verzögerte Landeerlaubnis stellt aussergewöhnlichen Umstand iSd VO (EG) 261/04 dar
Fluggastrechte, Verspätung, Reiseabbruch, Außergewöhnliche Umstände, Fluggast, Anschlussflug, Ersatzflug, Landeerlaubnis, Ausgleichsanspruch, Entschädigung, Schadensersatz, VO (EG) 261/04