Das Amtsgericht Hamburg hat mit Urteil vom 21.12.2017, Az. 31b C 135/17 entschieden, dass eine Ratte an Bord eines Flugzeuges keinen außergewöhnlichen Umstand im Sinne der Verordnung (EG) 261/04 (Fluggastrechteverordnung) darstellt, die die Fluggesellschaft zur Zahlung einer Entschädigung bei größerer Flugverspätung oder Annullierung befreit.
Das Amtsgericht hat ferner Entschieden, dass einem Passagier mit einem Multiple-Entry-Visum C für das Schengen-Gebiet die Beförderung in den Schengen-Raum von einer Fluggesellschaft nicht verweigert werden darf.
Aus den Gründen:
In dem Rechtsstreit
- Klägerin -
Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte Diekmann, Feldbrunnenstraße 57, 20148 Hamburg,
gegen
Société AIR FRANCE S.A., per Adresse Air France Direktion Deutschland, Zeil 5, 60313 Frankfurt am Main, Rue de Paris 45, F-95747 Roissy Charles de Gaulle, Frankreich
- Beklagte -
Prozessbevollmächtigte:
erkennt das Amtsgericht Hamburg - Abteilung 31b - durch die Richterin am Amtsgericht Dr. Kappet am 21.12.2017 ohne mündliche Verhandlung gemäß § 495a ZPO für Recht:
- Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 600,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 12.05.2017 zu zahlen.
- Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
- Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
- Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin fordert von der Beklagten Ausgleichsleistung gemäß der "Fluggastrechte"-Verordnung (EG) 261/04 (im Folgenden: Fluggastrechteverordnung) aus abgetretenem Recht.
Der Passagier buchte bei der Beklagten für den 08.02.2017 einen Flug von Mumbai über Paris nach Hamburg, fand sich zur angegebenen Zeit zur Abfertigung in Mumbai ein, der Flug von Mumbai nach Paris wurde annulliert und die Entfernung zwischen Mumbai und Hamburg beträgt mehr als 3.500 km.
Der Passagier hat die indische Staatsangehörigkeit und führte für den Flug ein Multiple-Entry-Visum C für das Schengen-Gebiet für den Zeitraum vom 08.06.2016 bis zum 07.06.2017, ausgestellt in Spanien, gemäß Anlage K4 bei sich.
Er trat der Klägerin gemäß dem Abtretungsvertrag (Anlage K1) seinen Anspruch auf Zahlung der Ausgleichleistung ab und die Klägerin mahnte die Beklagte unter Anzeige dieser Abtretung mit Schreiben vom 27.04.2017 (Anlage K3) und forderte die Beklagte zur Zahlung bis zum 11.05.2017 auf.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 600,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 12.05.2017 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte behauptet, es habe sich nach dem Boarden der Passagiere und dem Schließen der Türen im Passagierraum eine Ratte befunden.
Sie meint, der Passagier habe für die Einreise nach Deutschland nicht das erforderliche Visum besessen.
Sie meint außerdem, hier liege ein außergewöhnlicher Umstand vor, weil sich eine Ratte an Bord des Flugzeuges befunden habe.
Für die weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf das Sitzungsprotokoll und den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet.
Das Gericht ist international und örtlich zuständig, weil hier ein einheitlicher Flug vorliegt, da der Zessionar, der Passagier, den streitgegenständlichen Flug unter einer einheitlichen Buchungsnummer „ZG858G Von Mumbai (BOM) nach Hamburg (HAM), mit Air France“ (Anlage K2) buchte und sein Gepäck in Mumbai bereits für die gesamte Flugstrecke eingecheckt wurde.
Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung von 600,00 € gemäß Artikel 5 Abs. 2 lit. c), Artikel 7 Abs. 1 lit. b) der Fluggastrechteverordnung aus abgetretenem Recht.
Unstreitig buchte der Passagier bei der Beklagten einen Flug von Mumbai über Paris nach Hamburg, fand sich zur angegebenen Zeit zur Abfertigung ein, der Flug von Mumbai nach Paris wurde annulliert und die Entfernung zwischen Mumbai und Hamburg beträgt mehr als 3.500 km.
Die Beklagte war nicht berechtigt, dem Passagier mit indischer Staatsangehörigkeit, der unstreitig ein Multiple-Entry-Visum C für das Schengen-Gebiet für den Zeitraum vom 08.06.2016 bis zum 07.06.2017, ausgestellt in Spanien, gemäß Anlage K4 bei sich führte, die Beförderung mangels ausreichender Reiseunterlagen zu verweigern. Denn mit dem genannten Visum war der Passagier berechtigt, in sämtliche Schengen-Länder - also auch nach Deutschland - einzureisen gemäß Artikel 2 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft [Visakodex] mit Anhang VII dieser Verordnung.
Außergewöhnliche Umstände, die zu der Annullierung geführt hätten, liegen hier nicht vor. Gemäß der Rechtsprechung des BGH gilt Folgendes:
„Der Begriff der außergewöhnlichen Umstände, der weder in Artikel 2 noch in sonstigen Vorschriften der Verordnung definiert ist, bedeutet nach seinem Wortlaut, dass die gegebenenfalls zu einem Wegfall der Ausgleichspflicht führenden Umstände außergewöhnlich sind, d.h. nicht dem gewöhnlichen Lauf der Dinge entsprechen, sondern außerhalb dessen liegen, was üblicherweise mit dem Ablauf der Personenbeförderung im Luftverkehr verbunden ist oder verbunden sein kann. Es sollen Ereignisse erfasst werden, die nicht zum Luftverkehr gehören, sondern als - jedenfalls in der Regel von außen kommende - besondere Umstände seine ordnungs- und plangemäße Durchführung beeinträchtigen oder unmöglich machen können. Umstände, die im Zusammenhang mit einem den Luftverkehr störenden Vorfall wie einem technischen Defekt auftreten, können nur dann als außergewöhnlich im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung qualifiziert werden, wenn sie auf ein Vorkommnis zurückgehen, das wie die in Erwägungsgrund 14 der Verordnung aufgezählten nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens und aufgrund seiner Natur oder Ursache von diesem tatsächlich nicht zu beherrschen ist...“ (BGH, Urteil vom 24. September 2013 - X ZR 160/12-, Rn. 10 m.w.N., juris)
Demnach ist eine Ratte an Bord eines Flugzeuges - unterstellt, es war tatsächlich eine Ratte an Bord - kein außergewöhnlicher Umstand. Denn die Ratte ist während der Betriebstätigkeit der Beklagten in das Flugzeug gelangt, weil sie denknotwendig nur während geöffneter Türen und damit während eines Beladungsvorgangs oder während des Boardings der Passagiere an Bord gekommen sein kann. Auch kann es dahinstehen, ob es häufig vorkommt, dass Ratten an Bord eines Flugzeuges kommen, weil auch selten vorkommende Ereignisse nicht wegen ihrer Seltenheit zu einem außerhalb der Betriebstätigkeit der Beklagten liegenden Ereignis werden, zumal es nicht außerhalb jeglicher Wahrscheinlichkeit liegt und es durch geeignete Maßnahmen verhindert oder doch minimiert werden könnte (Vergleiche hierzu auch AG Frankfurt a. M. Urt. v. 20.4.2017 - 30 C 2105/16, BeckRS 2017, 115031, beck-online).
Die Klägerin hat diesen Anspruch des Passagiers unstreitig durch Abtretungsvertrag (Anlage K1) gemäß § 398 Satz 2 BGB erworben.
Die Klägerin kann von der Beklagten als Nebenforderung Verzugszinsen gemäß §§ 288, 286 Abs. 1 BGB seit dem 12.05.2017 fordern.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO und die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Die Berufung wird gemäß § 511 Abs. 4 Nr. 1 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen, weil die Beurteilung der Rechtsfrage, ob eine Ratte bzw. Maus an Bord eines Flugzeuges einen außergewöhnlichen Umstand darstellt, bereits von zwei Amtsgerichten unterschiedlich entschieden wurde (kein außergewöhnlicher Umstand: AG Frankfurt a. M. Urt. v. 20.4.2017 - 30 C 2105/16, BeckRS 2017, 115031, beck-online und außergewöhnlicher Umstand: AG Düsseldorf, Urteil vom 08.10.2014 - 47 C 17099/13-, juris).