Im Urteil vom 2. März 2023 hatte der Europäische Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsverfahren insgesamt acht Vorlagefragen zu beantworten, die das Verwaltungsgericht Wien im Jahr 2021 vorgelegt hat.
Damit wurde bestehenden Unsicherheiten im Bereich der Produktabgrenzung ein Stück weit abgeholfen. Den europäischen rechtlichen Rahmen bilden dabei zum einen die Verordnung (EU) Nr. 609/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juni 2013 über Lebensmittel für Säuglinge und Kleinkinder, Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke und Tagesrationen für gewichtskontrollierende Ernährung und zur Aufhebung der Richtlinie 92/52/EWG des Rates, der Richtlinien 96/8/EG, 1999/21/EG, 2006/125/EG und 2006/141/EG der Kommission, der Richtlinie 2009/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnungen (EG) Nr. 41/2009 und (EG) Nr. 953/2009 der Kommission (ABl. 2013, L 181, S. 35) und zum anderen die Richtlinie 2002/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. Juni 2002 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Nahrungsergänzungsmittel (ABl. 2002, L 183, S. 51).
Die acht Vorlagefragen wurden -teilweise zusammengefasst- wie folgt beantwortet:
1. Auslegung der Begriffe „Diätmanagement“ und „Modifizierung der normalen Ernährung allein“
Zunächst wollte das vorlegende Gericht wissen, wie die Begriffe „Diätmanagement“ und „Modifizierung der normalen Ernährung allein“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 lit. g) der VO (EU) 609/2013 auszulegen seien. Die Beantwortung der Vorlagefrage durch den EuGH lautet dahingehend, dass der Begriff „Diätmanagement“ einen Bedarf erfasst, der durch eine Krankheit, eine Störung oder Beschwerden verursacht wird und dessen Deckung für den Patienten unter Ernährungsgesichtspunkten unerlässlich ist. Der Begriff „Modifizierung der normalen Ernährung allein“ umfasst nach Auslegung des EuGH zum einen Sachlagen, in denen eine Modifizierung der Ernährung für den Patienten unmöglich oder gefährlich ist und zum anderen solche Sachlagen, in denen der Patient nur sehr schwer seinen Ernährungsbedarf durch den Verzehr gewöhnlicher Lebensmittel zu decken vermag.
Darüber hinaus stellt der EuGH fest, dass eine Qualifizierung als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke nicht davon abhängig gemacht werden kann, dass der Erfolg des durch eine Krankheit, eine Störung oder Beschwerden bedingten „Diätmanagements“ und folglich die Wirkung des Erzeugnisses notwendigerweise im Wege oder infolge der Verdauung eintritt.
2. Abgrenzung Nahrungsergänzungsmittel / Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke
Zudem wollte das vorlegende Gericht vom EuGH erfahren, nach welchen Kriterien die Begriffe „Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung Nr. 609/2013 und „Nahrungsergänzungsmittel“ im Sinne von Art. 2 der Richtlinie 2002/46 voneinander abgegrenzt werden können und ob sich diese Begriffe gegenseitig ausschließen.
In der Beantwortung der Vorlagefrage stellt der EuGH zunächst fest, dass sich die Begriffe „Nahrungsergänzungsmittel“ und „Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke“ gegenseitig ausschließen.
Eine Abgrenzung sei im Einzelfall und anhand der Merkmale und Verwendungsbedingungen zu bestimmen. Kernpunkt der Abgrenzung voneinander ist die Feststellung, dass Nahrungsergänzungsmittel die normale Ernährung ergänzen, mithin integraler Bestandteil von ihr sind. Hingegen läge es in der Natur der Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke, dass diese besondere Ernährungsanforderungen entsprechen müssen und, dass für diese Anforderungen die Modifizierung der allgemeinen Ernährung eben nicht mehr ausreicht.
Kurz gesagt dienen Nahrungsergänzungsmittel der Ergänzung der allgemeinen Ernährung, wohingegen Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke solche Ernährungsanforderungen erfüllen sollen, die durch Krankheit, Störung oder Beschwerden verursacht werden und die nicht mehr durch Ergänzung normaler Ernährung gedeckt werden können.
3. Abgrenzung Arzneimittel / Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke
Sodann bittet das vorlegende Gericht um Auslegung, anhand welcher Kriterien zwischen den Begriffen „Arzneimittel“ im Sinne von Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2001/83 und „Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. g) der VO (EU) 609/2013 unterschieden werden kann.
Der Gerichtshof beantwortet die Frage dahingehend, dass für die Abgrenzung der in diesen Bestimmungen jeweils definierten Begriffe „Arzneimittel“ und „Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke“ im Hinblick auf Art und Merkmale des betreffenden Erzeugnisses zu beurteilen ist, ob es sich um ein Lebensmittel handelt, das besonderen Ernährungsanforderungen entsprechen soll, oder ob es sich um ein Erzeugnis handelt, das dazu bestimmt ist, menschlichen Krankheiten vorzubeugen oder sie zu heilen, menschliche physiologische Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder eine medizinische Diagnose zu erstellen.
Die Auslegung des Gerichtshofs liest sich dahingehend, dass im Zweifel bei kleinstem krankheitsbezogenem Nutzen eines Erzeugnisses, dieses tendenziell als Arzneimittel einzustufen ist.
Wenn also ein Patient aus der Aufnahme eines Erzeugnisses insoweit allgemein einen Nutzen zieht, als dessen Inhaltsstoffe dazu beitragen, einer Krankheit vorzubeugen, sie zu lindern oder sie zu heilen, dann zielt dieses Erzeugnis nicht darauf ab, diesen Patienten zu ernähren, sondern ihn zu heilen, einer Krankheit vorzubeugen oder die menschlichen physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen, was dafür spricht, dieses Erzeugnis anders denn als „Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke“ einzustufen (Urteil vom 27. Oktober 2022, Orthomol, C‑418/21, EU:C:2022:831, Rn. 41).
Zu beachten ist auch, dass die Regelungen für Arzneimittel und Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke sich gegenseitig ausschließen.
4. Auslegung des Begriffs „Nährstoff“
In Frage stand auch, wie der Begriff „Nährstoff“ auszulegen ist, da dieser in der Verordnung (EU) 609/2013 nicht definiert wird. Systematisch folgerichtig wird diese Frage vom EuGH dahingehend beantwortet, dass der Begriff „Nährstoff“ iSd. Art. 2 Abs. 2 lit. s) der VO (EU) 1169/2011 anwendbar sei. Dementsprechend meint Nährstoff auch im Sinne der VO (EU) 609/2013: “ Eiweiße, Kohlenhydrate, Fett, Ballaststoffe, Natrium, Vitamine und Mineralien, die in Anhang XIII Teil A Nummer 1 dieser Verordnung aufgeführt sind, sowie Stoffe, die zu einer dieser Klassen gehören oder Bestandteil einer dieser Klassen sind.
5. Erforderlichkeit der Verwendung unter ärztlicher Aufsicht
Zuletzt stand auch die Frage im Raum, anhand welcher Kriterien festgestellt werden kann, dass ein Erzeugnis iSd. Art. 2 Abs. 2 lit. g) VO (EU) 609/2013 unter ärztlicher Aufsicht zu verwenden ist und, ob diese Bestimmung dahingehend auszulegen ist, dass die Vorgabe, dass eine Verwendung nur unter ärztlicher Aufsicht erfolgen darf, für die Einstufung eines Erzeugnisses als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke erforderlich ist und welche Konsequenzen die Nichterfüllung dieser Vorgabe hat.
Der EuGH stellt fest, dass ein Erzeugnis unter ärztlicher Aufsicht zu verwenden ist, wenn die Empfehlung und die nachfolgende Beurteilung durch einen Angehörigen der Gesundheitsberufe im Hinblick auf das durch eine besondere Krankheit, eine besondere Störung oder besondere Beschwerden bedingte Diätmanagement und auf die Wirkungen des Erzeugnisses auf die Ernährungsanforderungen des Patienten und Letzteren notwendig sind. Ferner sei allerdings die Vorgabe, dass ein Erzeugnis nur unter ärztlicher Aufsicht anzuwenden ist, als solche keine Voraussetzung für die Einstufung eines Erzeugnisses als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke.
Eine Abgrenzung kann allerdings auch im Angesicht dieses Urteils immer nur im Einzelfall erfolgen. Wir beraten Sie gerne zu allen Fragen der Produktabgrenzung und des allgemeinen Lebensmittelrechts!
Das Urteil im Volltext finden Sie unter:
https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=270833&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=1092586
Rechtsgebiete
- News(0)
- Apothekenrecht(50)
- Arbeitsrecht(0)
- Arzneimittelrecht(53)
- Biozidrecht(8)
- Cannabisrecht(20)
- Fluggastrecht(98)
- Futtermittelrecht(1)
- Heilmittelwerberecht(20)
- Kosmetikrecht(6)
- Lebensmittelrecht(70)
- Markenrecht(31)
- Medizinprodukterecht(17)
- Musikrecht(0)
- Sonstige Rechtsgebiete(101)
- Tabakrecht(7)
- Tierarzneimittelrecht(11)
- Urheberrecht(20)
- Wettbewerbsrecht(69)
- Wirtschaftsstrafrecht(2)
Haben Sie Fragen? Wir helfen gern!
Falls Sie Fragen zu diesem oder einem ähnlichen Thema haben, freuen wir uns über Ihre Kontaktaufnahme mittels des nachstehenden Formulars oder per Email an:
info@diekmann-rechtsanwaelte.de
Sie können uns natürlich auch unter
+49 (40) 33443690 telefonisch erreichen.
EuGH zur Abgrenzung von „Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke“ von anderen Produktgruppen
EuGH, Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke, FSMP, LbmZ, Verordnung (EU) Nr. 609/2013, Diätmanagement, Modifizierung der normalen Ernährung allein, Nahrungsergänzungsmittel, Arzneimittel, Abgrenzung, Nährstoff