Feldbrunnenstraße 57,   20148 Hamburg   |   +49 (0)40 33 44 36 90
Erfahrungen & Bewertungen zu DIEKMANN Rechtsanwälte

Haben Sie Fragen? Wir helfen gern!


Falls Sie Fragen zu diesem oder einem ähnlichen Thema haben, freuen wir uns über Ihre Kontaktaufnahme mittels des nachstehenden Formulars oder per Email an:

info@diekmann-rechtsanwaelte.de

Sie können uns natürlich auch unter

+49 (40) 33443690 telefonisch erreichen.


FragenForm

Page1
* Pflichtfelder



EuGH: Streiks des eigenen Flugpersonals begründen keinen außergewöhnlichen Umstand nach der Fluggastrechteverordnung 

Der EuGH entschied im Beschluss vom 10.01.2022 (Az. C-287/20), dass sich Fluggesellschaften im Falle eines Streiks des eigenen Flugpersonals nicht auf einen außergewöhnlichen Umstand berufen können. Die Fluggesellschaft kann sich daher nicht befreiend auf einen außergewöhnlichen Umstand berufen. Für betroffene Fluggäste besteht daher ein Ausgleichanspruch nach der Fluggastrechteverordnung. 
Nach dem EuGH seien solche Streiks ein Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit einer Fluggesellschaft und daher nicht als außergewöhnlicher Umstand zu betrachten. Ferner sind solche Umstände sogar vorhersehbar, laut dem EuGH. 

BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)
10. Januar 2022

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Luftverkehr – Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – Art. 5 Abs. 3 – Gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen – Befreiung von der Ausgleichspflicht – Begriff ‚außergewöhnliche Umstände‘ – Streik von Flugbegleitern und Piloten – ‚Interne‘ und ‚externe‘ Umstände im Hinblick auf die Tätigkeit des ausführenden Luftfahrtunternehmens – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 12 und 28 – Kein Eingriff in die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit der Arbeitnehmer sowie das Recht des Luftfahrtunternehmens auf Kollektivverhandlungen“

In der Rechtssache C 287/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Amtsgericht Hamburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 16. Juni 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Juni 2020, in dem Verfahren

EL, CP

gegen

Ryanair DAC

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Jääskinen sowie der Richter N. Piçarra und M. Gavalec (Berichterstatter),
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von EL und CP, vertreten durch Rechtsanwälte C. Jansen und M. Jansen,
– der Ryanair DAC, vertreten durch Rechtsanwältin S. Hensel,
– der dänischen Regierung, vertreten durch J. Nymann-Lindegren, M. Jespersen und M. Wolff als Bevollmächtigte,
– der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,
– der französischen Regierung, vertreten durch A. Ferrand und A. Daniel als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Simonsson und W. Mölls als Bevollmächtigte,

aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

folgenden

Beschluss

1   Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).

2   Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen den beiden Fluggästen EL und CP und dem Luftfahrtunternehmen Ryanair DAC wegen dessen Weigerung, an diese Fluggäste ungeachtet der Annullierung des von ihnen gebuchten Fluges eine Ausgleichszahlung zu leisten.

Rechtlicher Rahmen

Europäische Sozialcharta

3   Die am 18. Oktober 1961 in Turin im Rahmen des Europarats unterzeichnete und am 3. Mai 1996 in Straßburg revidierte Europäische Sozialcharta trat im Jahr 1999 in Kraft. Alle Mitgliedstaaten sind Vertragsparteien dieses Übereinkommens, dem sie in seiner ursprünglichen Fassung, in seiner revidierten Fassung oder in beiden Fassungen beigetreten sind.

4   Teil I Nr. 6 der Europäischen Sozialcharta bestimmt in seiner revidierten Fassung:

„Alle Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben das Recht auf Kollektivverhandlungen.“

5   Art. 6 („Das Recht auf Kollektivverhandlungen“) des Teils II der Europäischen Sozialcharta sieht u. a. vor:

„Um die wirksame Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, …
anerkennen [die Vertragsparteien]

4 das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Fall von Interessenkonflikten, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen.“

Unionsrecht

6   In den Erwägungsgründen 1, 4, 14 und 15 der Verordnung Nr. 261/2004 heißt es:

„(1)   Die Maßnahmen der [Europäischen Union] im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.



(4)   Die [Union] sollte deshalb die mit der [Verordnung (EWG) Nr. 295/91 des Rates vom 4. Februar 1991 über eine gemeinsame Regelung für ein System von Ausgleichsleistungen bei Nichtbeförderung im Linienflugverkehr (ABl. 1991, L 36, S. 5)] festgelegten Schutzstandards erhöhen, um die Fluggastrechte zu stärken und um sicherzustellen, dass die Geschäftstätigkeit von Luftfahrtunternehmen in einem liberalisierten Markt harmonisierten Bedingungen unterliegt.



(14)   Wie nach dem Übereinkommen [zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, geschlossen am 28. Mai 1999 in Montreal und genehmigt im Namen der Europäischen Gemeinschaft durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 (ABl. 2001, L 194, S. 38)] sollten die Verpflichtungen für ausführende Luftfahrtunternehmen in den Fällen beschränkt oder ausgeschlossen sein, in denen ein Vorkommnis auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Solche Umstände können insbesondere bei politischer Instabilität, mit der Durchführung des betreffenden Fluges nicht zu vereinbarenden Wetterbedingungen, Sicherheitsrisiken, unerwarteten Flugsicherheitsmängeln und den Betrieb eines ausführenden Luftfahrtunternehmens beeinträchtigenden Streiks eintreten.

(15)   Vom Vorliegen außergewöhnlicher Umstände sollte ausgegangen werden, wenn eine Entscheidung des Flugverkehrsmanagements zu einem einzelnen Flugzeug an einem bestimmten Tag zur Folge hat, dass es bei einem oder mehreren Flügen des betreffenden Flugzeugs zu einer großen Verspätung, einer Verspätung bis zum nächsten Tag oder zu einer Annullierung kommt, obgleich vom betreffenden Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen wurden, um die Verspätungen oder Annullierungen zu verhindern.“


7   Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung Nr. 261/2004 sieht vor:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck



b)   ‚ausführendes Luftfahrtunternehmen‘ ein Luftfahrtunternehmen, das im Rahmen eines Vertrags mit einem Fluggast oder im Namen einer anderen – juristischen oder natürlichen – Person, die mit dem betreffenden Fluggast in einer Vertragsbeziehung steht, einen Flug durchführt oder durchzuführen beabsichtigt;



l)   ‚Annullierung‘ die Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war.“


8   In Art. 5 („Annullierung“) der Verordnung Nr. 261/2004 heißt es:

„(1)   Bei Annullierung eines Fluges [wird] den betroffenen Fluggästen



c)   vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn,

i)   sie werden über die Annullierung mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet, oder

ii)   sie werden über die Annullierung in einem Zeitraum zwischen zwei Wochen und sieben Tagen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als zwei Stunden vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen, oder

iii)   sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.



(3)   Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

…“


9   Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt in Abs. 1:

„Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

a)   250 EUR bei allen Flügen über eine Entfernung von 1500 km oder weniger,



Bei der Ermittlung der Entfernung wird der letzte Zielort zugrunde gelegt, an dem der Fluggast infolge der Nichtbeförderung oder der Annullierung später als zur planmäßigen Ankunftszeit ankommt.“


Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

10   Die Kläger des Ausgangsverfahrens buchten bei Ryanair einen Flug von Verona (Italien) nach Hamburg (Deutschland). Der Flug sollte von dem genannten Luftfahrtunternehmen am 28. September 2018 um 14.50 Uhr durchgeführt werden.

11   Ryanair annullierte den Flug und informierte die Kläger des Ausgangsverfahrens am geplanten Abflugtag darüber. Die Annullierung war auf einen Streik zurückzuführen, der auf das Scheitern von Verhandlungen zwischen dem Luftfahrtunternehmen und Vertretern seines Flugpersonals, nämlich Flugbegleitern und Piloten, folgte.

12   Die Kläger des Ausgangsverfahrens erhoben beim vorlegenden Gericht, dem Amtsgericht Hamburg (Deutschland), Klage und beantragten, Ryanair zu verurteilen, ihnen jeweils eine Ausgleichszahlung in Höhe von 250 Euro gemäß Art. 5 Abs. 1 Buchst. c in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 zu leisten.

13   Ein Streik eigener Flugbegleiter und Piloten des ausführenden Luftfahrtunternehmens stelle keinen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 dieser Verordnung dar. Es handele sich um ein bei jeder Tarifverhandlung vorhersehbares Ereignis und nicht, wie Ryanair behaupte, um ein „außergewöhnliches Ereignis“.

14   Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts muss diese Auslegung, da der Gerichtshof im Urteil vom 17. April 2018, Krüsemann u. a. (C 195/17, C 197/17 bis C 203/17, C 226/17, C 228/17, C 254/17, C 274/17, C 275/17, C 278/17 bis C 286/17 und C 290/17 bis C 292/17, EU:C:2018:258), einen „wilden Streik“ als ein vom Luftfahrtunternehmen beherrschbares Vorkommnis beurteilt habe, erst recht für einen gewerkschaftlich organisierten Streik eigener Mitarbeiter eines ausführenden Luftfahrtunternehmen gelten.

15   Gleichwohl könne eine andere Auslegung nicht ausgeschlossen werden, weil im Gegensatz zum „wilden Streik“ ein von einer Gewerkschaft ausgerufener Streik insbesondere durch Art. 12 Abs. 1 und Art. 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie durch Art. 6 Abs. 4 des Teils II der Europäischen Sozialcharta, ausgelegt im Licht von deren Teil I Nr. 6, geschützt sei. Durch die Einstufung eines von einer Gewerkschaft ausgerufenen Streiks als „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 könnte, wie der Bundesgerichtshof (Deutschland) in einem Urteil vom 21. August 2012 entschieden habe, verhindert werden, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen von vornherein auf seine unionsrechtlich geschützte Koalitionsfreiheit verzichte und sich im Arbeitskampf in die Rolle des Unterlegenen begebe. Außerdem weist das vorlegende Gericht ebenso wie Ryanair darauf hin, dass der 14. Erwägungsgrund der Verordnung den Streik im Allgemeinen als „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung bezeichne, ohne danach zu unterscheiden, ob es sich um einen Streik der Mitarbeiter des ausführenden Luftfahrtunternehmens oder Dritter handele.

16   Vor diesem Hintergrund hat das Amtsgericht Hamburg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

  1. Stellt der gewerkschaftlich organisierte Streik des eigenen Personals eines ausführenden Luftfahrtunternehmens einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dar?
  2. Ist es insoweit von Bedeutung, ob im Vorfeld des Streiks Verhandlungen mit der/den Interessenvertretung/en der Arbeitnehmer geführt wurden?


Zu den Vorlagefragen

17   Nach Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, u. a. wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Beantwortung einer solchen Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.

18   Diese Bestimmung ist in der vorliegenden Rechtssache anzuwenden.

19   Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass Streikmaßnahmen, die infolge des Streikaufrufs einer Gewerkschaft von Flugbegleitern und Piloten eines ausführenden Luftfahrtunternehmens eingeleitet worden sind, unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung fallen und ob zu berücksichtigen ist, dass dem Streik Verhandlungen mit Arbeitnehmervertretern vorausgegangen sind.

20   Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Art. 5 der Verordnung Nr. 261/2004 für den Fall der Annullierung eines Fluges vorsieht, dass den betroffenen Fluggästen vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung eingeräumt wird, es sei denn, sie wurden über die Annullierung unter Beachtung der in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i bis iii vorgesehenen Fristen unterrichtet.

21   Nach Art. 5 Abs. 3 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 14 und 15 der Verordnung Nr. 261/2004 ist das ausführende Luftfahrtunternehmen von dieser Verpflichtung zur Gewährung von Ausgleichszahlungen befreit, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf „außergewöhnliche Umstände“ zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Zudem muss das ausführende Luftfahrtunternehmen bei Eintritt eines solchen Umstands nachweisen, dass es die der Situation angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, indem es alle ihm zur Verfügung stehenden personellen, materiellen und finanziellen Mittel eingesetzt hat, um zu vermeiden, dass dieser zur Annullierung des betreffenden Fluges führt. Jedoch können von ihm keine angesichts der Kapazitäten seines Unternehmens zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht tragbaren Opfer verlangt werden (Urteil vom 23. März 2021, Airhelp, C 28/20, EU:C:2021:226, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22   Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 eng auszulegen und umfasst Vorkommnisse, die ihrer Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens und von ihm nicht tatsächlich beherrschbar sind, wobei diese beiden Bedingungen kumulativ sind und ihr Vorliegen von Fall zu Fall zu beurteilen ist. Die Wahl dieses Begriffs spricht für den Willen des Unionsgesetzgebers, nur die Umstände einzubeziehen, die für das ausführende Luftfahrtunternehmen nicht kontrollierbar sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. März 2021, Airhelp, C 28/20, EU:C:2021:226, Rn. 23, 24 und 36, sowie vom 6. Oktober 2021, Eurowings, C 613/20, EU:C:2021:820, Rn. 19 und 28).

23   Erstens ist der Streik zwar eine Konfliktphase in den Beziehungen zwischen den Arbeitnehmern und dem Arbeitgeber, dessen Tätigkeit gelähmt werden soll; gleichwohl bleibt er eine der möglichen Erscheinungsformern von Kollektivverhandlungen und ist damit als ein Vorkommnis anzusehen, das Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Arbeitgebers ist, unabhängig von den Besonderheiten des entsprechenden Arbeitsmarkts oder des anwendbaren nationalen Rechts zur Umsetzung des in Art. 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundrechts (Urteile vom 23. März 2021, Airhelp, C 28/20, EU:C:2021:226, Rn. 28, und vom 6. Oktober 2021, Eurowings, C 613/20, EU:C:2021:820, Rn. 20).

24   Solche Erwägungen müssen auch dann gelten, wenn der Arbeitgeber wie im vorliegenden Fall ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist, das sich bei der Ausübung seiner Tätigkeit für gewöhnlich Meinungsverschiedenheiten oder Konflikten mit seinen Mitarbeitern oder einem Teil von ihnen gegenübersehen kann. Maßnahmen in Bezug auf die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen der Mitarbeiter eines ausführenden Luftfahrtunternehmens fallen unter die normale Geschäftsführung dieses Unternehmens (Urteile vom 23. März 2021, Airhelp, C 28/20, EU:C:2021:226, Rn. 29, und vom 6. Oktober 2021, Eurowings, C 613/20, EU:C:2021:820, Rn. 21).

25   Zweitens ist ein Streik zur Durchsetzung von Gehaltsforderungen und/oder Sozialleistungen der Flugbegleiter und Piloten eines ausführenden Luftfahrtunternehmens nicht als ein Ereignis anzusehen, das vom betreffenden Luftfahrtunternehmen in keiner Weise tatsächlich beherrschbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. März 2021, Airhelp, C 28/20, EU:C:2021:226, Rn. 36, und vom 6. Oktober 2021, Eurowings, C 613/20, EU:C:2021:820, Rn. 24), insbesondere wenn einem solchen Streik Verhandlungen mit Arbeitnehmervertretern vorausgegangen sind.

26   Da es sich beim Streik um ein für die Arbeitnehmer durch Art. 28 der Charta verbürgtes Recht handelt, ist nämlich die Tatsache, dass die Arbeitnehmer sich auf dieses Recht berufen und folglich Streikmaßnahmen auslösen, als für jeden Arbeitgeber vorhersehbare Tatsache anzusehen – insbesondere, wenn ein solcher Streik angekündigt wurde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. März 2021, Airhelp, C 28/20, EU:C:2021:226, Rn. 32, und vom 6. Oktober 2021, Eurowings, C 613/20, EU:C:2021:820, Rn. 25).

27   Darüber hinaus verfügt der Arbeitgeber, da für ihn der Ausbruch eines Streiks ein vorhersehbares Ereignis darstellt, grundsätzlich über die Mittel, sich darauf vorzubereiten und damit dessen Folgen gegebenenfalls abzufangen, so dass die Ereignisse für ihn zu einem gewissen Grad beherrschbar bleiben. Wie jeder Arbeitgeber kann auch das ausführende Luftfahrtunternehmen, dessen Beschäftigte zur Durchsetzung von Gehaltsforderungen und/oder Sozialleistungen streiken, nicht behaupten, es habe keinerlei Einfluss auf diese Maßnahmen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. März 2021, Airhelp, C 28/20, EU:C:2021:226, Rn. 35 und 36, sowie vom 6. Oktober 2021, Eurowings, C 613/20, EU:C:2021:820, Rn. 28).

28   Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass dem Streik Kollektivverhandlungen zwischen dem ausführenden Luftfahrtunternehmen und Vertretern von Flugbegleitern und Piloten vorausgegangen sind, was den Schluss zulässt, dass zur Durchsetzung solcher Gehaltsforderungen und/oder Sozialleistungen gestreikt wurde.

29   Drittens wollte der Unionsgesetzgeber, wenn er im 14. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2004 angibt, dass außergewöhnliche Umstände insbesondere bei den Betrieb eines ausführenden Luftfahrtunternehmens beeinträchtigenden Streiks eintreten können, auf außerhalb der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens liegende Streiks Bezug nehmen. Folglich können „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 dieser Verordnung insbesondere bei Streikmaßnahmen der Fluglotsen oder des Flughafenpersonals vorliegen. Liegen einem solchen Streik Forderungen zugrunde, die nur von staatlichen Stellen erfüllt werden können und die daher für das betroffene Luftfahrtunternehmen nicht tatsächlich beherrschbar sind, so kann es sich dabei ebenso um einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne dieser Bestimmung handeln. Dagegen handelt es sich bei einem von den eigenen Beschäftigten eines ausführenden Luftfahrtunternehmens ausgelösten und befolgten Streik um ein „internes“ Ereignis dieses Unternehmens; dies schließt auch einen durch den Streikaufruf von Gewerkschaften ausgelösten Streik ein, da diese im Interesse der Arbeitnehmer dieses Unternehmens auftreten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. März 2021, Airhelp, C 28/20, EU:C:2021:226, Rn. 42, 44 und 45, sowie vom 6. Oktober 2021, Eurowings, C 613/20, EU:C:2021:820, Rn. 30 und 31).

30   Viertens und letztens kann das durch Art. 12 der Charta garantierte Recht jeder Person, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten, in keiner Weise dadurch beeinträchtigt werden, dass ein Streik von Flugbegleitern und Piloten eines ausführenden Luftfahrtunternehmens zur Durchsetzung von Gehaltsforderungen und/oder Sozialleistungen unter Beachtung der gesetzlichen Anforderungen nicht als „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 eingestuft wird.

31   Das Gleiche gilt für das Recht des Arbeitgebers auf Kollektivverhandlungen nach Art. 28 der Charta. Insoweit genügt die Feststellung, dass der Umstand, dass ein ausführendes Luftfahrtunternehmen aufgrund eines unter Beachtung der gesetzlichen Anforderungen organisierten Streiks seiner Beschäftigten der Gefahr ausgesetzt ist, die Ausgleichsleistung gemäß Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 zahlen zu müssen, dieses Unternehmen nicht dazu zwingt, ohne Weiteres allen Forderungen der Streikenden zuzustimmen. Das Luftfahrtunternehmen ist nämlich weiterhin in der Lage, die betrieblichen Interessen so zu vertreten, dass ein alle Sozialpartner zufriedenstellender Kompromiss erreicht werden kann. Somit kann nicht angenommen werden, dass diesem Unternehmen seine unionsrechtlich geschützte Koalitionsfreiheit genommen wird und es sich im Arbeitskampf von vornherein in der Rolle des Unterlegenen befindet (Urteil vom 23. März 2021, Airhelp, C 28/20, EU:C:2021:226, Rn. 48).

32   Selbst wenn man, wie Ryanair in ihren schriftlichen Erklärungen ausführt, unterstellt, dass die Gewerkschaft, die Flugbegleiter und Piloten zum Streik aufgerufen hat, die in der nationalen Regelung vorgesehene Streikankündigungsfrist nicht eingehalten hat, ergibt sich jedenfalls aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass zur Klärung der Frage, ob Streiks als „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 einzustufen sind, nicht darauf abzustellen ist, ob sie nach dem einschlägigen nationalen Recht rechtmäßig sind oder nicht. Würde nämlich hierauf abgestellt, hätte dies zur Folge, dass der Anspruch von Fluggästen auf Ausgleichszahlung von den arbeits- und tarifrechtlichen Vorschriften des jeweiligen Mitgliedstaats abhinge; dadurch würden die in den Erwägungsgründen 1 und 4 dieser Verordnung genannten Ziele beeinträchtigt, ein hohes Schutzniveau für die Fluggäste sowie harmonisierte Bedingungen für die Geschäftstätigkeit von Luftfahrtunternehmen in der Union sicherzustellen (Urteil vom 17. April 2018, Krüsemann u. a., C 195/17, C 197/17 bis C 203/17, C 226/17, C 228/17, C 254/17, C 274/17, C 275/17, C 278/17 bis C 286/17 und C 290/17 bis C 292/17, EU:C:2018:258, Rn. 47).

33   Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass infolge des Streikaufrufs einer Gewerkschaft von Flugbegleitern und Piloten eines ausführenden Luftfahrtunternehmens eingeleitete Streikmaßnahmen zur Durchsetzung der Forderungen dieser Arbeitnehmer nicht unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung fallen; ob Verhandlungen mit Arbeitnehmervertretern vorausgegangen sind, ist insoweit unerheblich.
 Kosten

34   Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 ist dahin auszulegen, dass infolge des Streikaufrufs einer Gewerkschaft von Flugbegleitern und Piloten eines ausführenden Luftfahrtunternehmens eingeleitete Streikmaßnahmen zur Durchsetzung der Forderungen dieser Arbeitnehmer nicht unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung fallen; ob Verhandlungen mit Arbeitnehmervertretern vorausgegangen sind, ist insoweit unerheblich.